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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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hat.«
    Sie berührte ihre linke Brust und sagte: »Hier ist meine Heimat.«Dann legte sie die Hand auf Tannhäusers Brust: »Und hier.« Während Tannhäuser noch darüber nachdachte, ob dies eine Aufforderung zum Liebesspiel war, fragte sie: »Wo ist dein Vater?«
    »Weit weg, in den Bergen des Nordens«, antwortete er.
    »Liebst du ihn?«
    »Er hat mir beigebracht, wie man Stahl schmiedet«, sagte er. »Und wie man es schafft, daß das Feuer hell lodernd brennt, und wie man ehrlich ist und alle möglichen anderen schönen Dinge, von denen ich die meisten vergessen habe, er aber nicht.«
    »Also lebt er noch.«
    »Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Er war stark wie ein Ochse oder wie einer von deinen Stieren. Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Tannhäuser. »Und er mich seit dreimal so vielen Jahren nicht.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Tannhäuser schaute zum türkisblauen Himmel empor. Seine Begegnung mit Abbas hatte auch diese Erinnerung wieder wachgerufen, doch er hatte sich noch gegen sie gewehrt.
    Nach seinem Abschied aus der Truppe der Janitscharen hatte er den Sold der letzten zehn Jahre genommen, den er kaum Gelegenheit gehabt hatte auszugeben, und hatte sich ein Pferd und einen Kaftan gekauft. Dann war er nach Norden gereist, durch die christlichen Ländereien des Sultans, bis in die ungarischen Sümpfe und in die Fogarasch-Berge, schließlich in sein Heimatdorf.
    Tannhäuser – oder Ibrahim der Rote, wie er damals hieß – war sofort zur Schmiede geeilt, wo er einen neuen erstgeborenen Sohn vorfand, der sein Pferd mit großem Geschick und mit dem Respekt beschlug, der einem Edelmann zusteht. Erst dann wurde ihm klar, wie weit seine feinen, obendrein ottomanischen Gewänder ihn über diese Bergbewohner erhoben. Er erhaschte einen Blick auf die Mutter des Jungen auf dem Hof, ein hübsches Ding, das noch nicht zu sehr vom Leben gezeichnet war. Der Junge hatte einen jüngeren Bruder. Der Vater werde bei Sonnenuntergang wieder zu Hause sein, erklärte der Junge ihm, sein Name seiKristofer. Die Wärme in den Worten des Jungen machte deutlich, wie sehr er seinen Vater liebte und verehrte.
    Am nächsten Morgen kehrte Ibrahim zurück, und Kristofer war da – sein Vater.
    Ibrahim hatte sein Gesicht das letzte Mal erblickt, als er noch Mattias, der Sohn des Schmieds gewesen war, als das Haar seiner Mutter noch bronzefarben gewesen war und seine Schwester Britta das Lied vom Raben gesungen hatte, während sie mit Gerda auf dem Hof spielte. Kristofer hatte dem jungen Mattias einen Klaps auf den Rücken gegeben, ehe er sich auf seine Rundreise zu den Gütern machte, und ihn gebeten, gut auf die Frauen aufzupassen. Genau das hatte Mattias nicht getan, wie sehr er es auch versucht hatte.
    Ibrahim fand Kristofer in der Schmiede, wo er sich mit seinem Sohn über die Holzkohle beugte und ihm einen Kunstgriff seines Handwerkes erläuterte. Er trug eine lange Lederschürze. Sein Haar war ergraut, aber nicht schütter geworden. Für seine fünfzig Jahre sah er überaus gesund aus, die Unterarme sehnig und muskulös, die Hände riesig. Er hatte dem Eingang den Rücken zugewandt. Ibrahim stand in der Tür und beobachtete die beiden.
    »Da!« sagte Kristofer, als hätte er einen seltenen Vogel entdeckt. »Das ist das richtige Blau, wie der Himmel am frühen Morgen am Neujahrstag. Vergiß es nicht. Niemals. Und jetzt schnell.«
    Die Junge nahm ein Stück Stahl mit der Zange aus dem Feuer, schreckte es in einem Eimer ab und sprach ein Ave Maria . Der Stahl sah aus wie der Meißel eines Steinmetzes. Als der Dampf aus dem Eimer aufstieg, roch Ibrahim destillierten Essig und Ätzkalk. Ja, richtig, das war die Mischung für das Härten eines Steinmeißels.
    Nicht so hart, daß er unter den Schlägen eines Hammers zerspringt, nicht so weich, daß er sich bei seiner heiligen Aufgabe verbiegt, denn bis sie Steine bearbeiteten, lebten die Menschen in der Wildnis – wie Kain im Lande Nod –, und ohne die richtigen Werkzeuge kehren auch wir in die Wildnis zurück.
    Beinahe wäre Ibrahim hingestürzt und hätte sich eine Schürze vom Haken gerissen, doch er bemerkte das Lächeln auf Kristofers Gesicht, als er zu dem Jungen herabblickte und vor Liebe undStolz nur so strahlte. Diese Gefühle waren Ibrahim fremd, denn er hatte keinen Sohn, doch diesen Blick – dieses Lächeln – hatte er gekannt, und das Angesicht Gottes konnte nicht milder und freundlicher sein.
    In jenem Augenblick verspürte Ibrahim, der

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