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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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dem Tod Dutzende Male ins Angesicht geblickt hatte, eine Furcht, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Kristofer hatte sich eine neue Familie aufgebaut. Aus der Asche der Verzweiflung hatte er das Herdfeuer dieser Familie neu entfacht, voller Liebe und Frieden, und beim Schein dieses Feuers lehrte er seinen Sohn die Schönheit und das Geheimnis, etwas zu erschaffen. Er hatte das Leid ertragen, das die Teufel ihm zugefügt hatten und denen, die er mehr als sein Leben liebte. Teufel wie Ibrahim, dessen Gewerbe das Töten war und nicht, Dinge zu erschaffen.
    Warum sollte er diesem sanften Mann so schrecklichen Schmerz bereiten? Warum ihm offenbaren, was in der Zwischenzeit aus seinem erstgeborenen Sohn geworden war: ein blutbesudelter Diener der Macht. Warum sollte er auf die strahlende Helligkeit dieser Schmiede einen Schatten werfen, der zu finster war, als daß man ihm einen Namen geben konnte?
    Kristofer spürte, daß er an der Tür stand, wandte sich um und richtete sich hoch auf. Er sah Ibrahims türkische Gewänder, aber nicht sein Gesicht, hinter dem die Morgensonne hell vom Hof hereinstrahlte. Das göttliche Lächeln verschwand aus seiner Miene. Er verneigte sich kühl, mit einer Höflichkeit, die jede Unterwürfigkeit ausschloß.
    »Guten Morgen, mein Herr«, sagte er. »Womit kann ich Euch dienen?«
    Ibrahim erinnerte sich auch an diese Unterweisung: die Begrüßung, die Haltung, die Freundlichkeit. Es schnürte ihm den Hals zusammen. Er mußte sich räuspern.
    Er erwiderte: »Euer Junge hat gestern mein Pferd beschlagen.«
    Kristofer hatte Deutsch gesprochen, das Ibrahim vergessen zu haben glaubte. Der Schmied hatte keine Antwort in der gleichen Sprache erwartet. Nicht von diesem Türken.
    Kristofer blinzelte. »Habt Ihr eine Beschwerde?«
    Der Junge erstarrte. Ibrahim hob abwehrend die Hand.
    »Keineswegs. Im Gegenteil, mein Pferd hat sich noch nie mit neuen Hufeisen besser gefühlt, und wir beide haben schon viele schwere Meilen miteinander verbracht.« Er hielt inne, weil er sich nicht verraten wollte. »Ich hatte das Gefühl, eine solch hervorragende Arbeit nicht ausreichend bezahlt zu haben, und wollte dem Jungen eine zusätzliche Belohnung zukommen lassen.«
    Der Junge errötete vor Freude.
    »Das ist nicht nötig«, antwortete Kristofer. »Eure Zufriedenheit ist uns Lohn genug. Bedanke dich bei dem Herrn, Mattie.«
    Beim Klang dieses Namens schnürte sich Ibrahim die Kehle noch weiter zusammen. »Trotzdem«, fügte er hinzu. »Wenn es mir gestattet ist, ohne Euch zu beleidigen, würde ich gern mehr bezahlen.«
    Mattie schaute seinen Vater fragend an und wurde mit einem Nicken beschieden. Während der Junge durch die Schmiede auf ihn zuschritt, betrachtete Kristofer die umschattete Gestalt an der Tür mit merkwürdig neugierigem Blick. Ibrahim fingerte nach seiner Börse, die den größten Teil seines Silbers und Goldes enthielt. Diese Begegnung hatte er nicht geplant. Er zog die Börse heraus und legte sie dem Jungen auf die Hand, hoffte, sie dabei Kristofers Blicken zu entziehen. Mattie spürte, wie schwer der Beutel war, und wollte schon protestieren.
    »Denk an deine Manieren, mein Junge«, raunte Ibrahim ihm leise zu. »Und mach sie erst auf, wenn ich fort bin.«
    Er schaute noch einmal zu Kristofer. Konnte der Mann ihn sehen oder nicht? Geh jetzt, dachte er, bevor es zu spät ist. Er hob die Hand.
    »Friede sei mit dir und deinem Haus«, sagte er.
    Er wandte sich zur Tür nach draußen, wo sein Pferd auf ihn wartete.
    »Bleibt noch ein wenig«, vernahm er hinter sich Kristofers Stimme. »Teilt unser Frühstück mit uns.«
    Ibrahim verharrte auf der Schwelle. Ein Abgrund tat sich zu seinenFüßen auf, wie sich vor so vielen Leben einer genau an dieser Schwelle vor ihm aufgetan hatte. Sollte er nicht zumindest auf einen kleinen Teil von dem, was ihm damals genommen worden war, wieder Anspruch erheben? Oder war es nicht bereits unwiederbringlich verloren, und er würde beim bloßen Versuch sogar noch mehr verlieren? Eine vertraute Stimme in seinem Kopf – in der Sprache, in der er nun dachte, in der er bei der Plünderung von Nachtschiwan seine Befehle gegeben hatte – verbannte alle seine Ängste.
    Es ist vorbei. Es ist vollbracht. Dies sind nicht mehr deine Leute. Laß sie in Frieden.
    Ibrahim sprach über die Schulter. »Ihr seid sehr freundlich, mein Herr, aber mich erwarten dringende Geschäfte an den Ufern von Stambul.«
    Er stieg auf sein Pferd und ritt fort, ohne sich noch einmal

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