Das Sakrament
wissen schien, beunruhigte seine Gedanken und seinen Körper, und ihr Zauberglas war ein wirkliches Wunder gewesen. Die meisten Instrumente dieser Art waren Kristallkugeln. Grubenius hatte einen magischen Spiegel aus poliertem Obsidian besessen. Amparos Zauberglas war ein optisches Instrument – eigentlich als neuartige Spielerei konstruiert –, aber mit ihrer Sehergabe, die ihr den Weg zu höherem Wissen wies, hatte sie sofort den weiteren Nutzen erkannt, den es für sie besaß. Es war ein Messingzylinder mit einem Okular am vorderen Ende, während sich am anderen Ende zwei dünne Rädchen mit drei Speichen, ebenfalls aus Messing, unabhängig voneinander um eine Welle drehten. Zwischen die Speichen beider Rädchen waren in komplizierten Mustern Stücke farbigen Glases eingefügt. In den Zylinder hatte man drei schmale Streifen Spiegelglas eingesetzt, deren spiegelnde Oberflächen in einem Winkel von dreißig Grad zueinander standen.
Auf den ersten Blick erschienen die Rädchen dunkel, aber wenn man das Instrument ins Sonnenlicht oder auf eine Kerzenflamme richtete, entfaltete sich eine ungeheure Palette von Farben, und wenn man mit einem Fingerschnipsen die Rädchen in Bewegung setzte, wirbelten die Farben in atemberaubenden Kombinationen, die das Auge verwirrten. Jede Bewegung eines der Rädchen veränderte das Bild, und Tannhäuser begriff, daß man so die Zeit selbst in unendlich viele kleine Fragmente aufsplittern konnte, wenn man nur die Geschwindigkeit der Rädchen und ihre Geschwindigkeitrelativ zueinander veränderte. Außerdem hing die Stimmung des Bildes davon ab, welche Lichtquelle man benutzte – je näher man an die Flamme heranging, desto leuchtender wurden die Farben. Ob die Kerze rauchte, wie intensiv das Sonnenlicht war, wie die Luft dazwischen beschaffen war, all diese Elemente veränderten das Bild, das sich mit ihnen veränderte. Wenn die Rädchen zum Stillstand kamen und der Zufall eine bestimmte Kombination von Farben und Licht ausgewählt hatte, hatte man einen kleinen Augenblick lang einen winzigen Splitter der Ewigkeit eingefangen. Kurz gesagt: Im Zauberglas dieses Mädchens spiegelte sich der Kosmos – die mächtige Strömung der Welt, das Schicksal selbst.
Manchmal sah Amparo gar nichts, nur die Schönheit der Farben. Zu anderen Zeiten füllten Bilder von atemberaubender Klarheit ihre Gedanken. Manchmal hörte sie die Stimme der Engel. Niemand konnte die Zukunft kennen. Amparo behauptete das auch nicht, doch inmitten der unendlichen Vielfalt der Dinge, die eines Tages sein könnten, lagen all die Dinge, die wirklich geschehen würden. Sie sah in diesem Wirbel Möglichkeiten. Was sein könnte, lag da wartend in dem Schmelztiegel all dessen, was noch nicht war. Amparo, so schien es ihm, begriff das instinktiv.
Die Nacht senkte sich herab, als Tannhäuser sich dem nördlichen Stadttor näherte. Im letzten Licht der Dämmerung rumpelte ihm ein zweirädriger Karren entgegen. Der Kutscher trug Helm und Brustharnisch, und unter seinem Sitz blinkte das Luntenschloß einer Muskete. Als das Gefährt an ihm vorüberfuhr, schaute unter einem Priesterhut ein junges, rattenartiges Gesicht hervor. Tannhäuser schenkte den beiden keine weitere Beachtung. Er ritt am Wachmann vorbei durch das Tor und durchquerte die Stadt. Die Geschäftigkeit am Ende des Tages war beinahe abgeebbt. Schon bald würden die Straßen ruhig und menschenleer sein. Er ritt am Kai entlang zum »Orakel«.
Tannhäuser hatte vor, sich zu betrinken und dann seine Wollust mit Dana zu befriedigen. Vielleicht waren seine Absichten wenig galant, denn eigentlich hatten Amparo und Contessa Carla ihn entflammt. Aber so war das Leben. Er fragte sich, welche Lautewohl die beiden auf dem Gipfel der Liebe von sich geben würden. Carlas leidenschaftliches Spiel auf der Gambe hallte noch in seinen Gedanken wider. Außerdem besaß sie ohne Zweifel eine hohe Intelligenz und eine erotische Kraft, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er stellte sich vor, wie er ihr das rote Seidenkleid abstreifte, obwohl er bezweifelte, daß sie das einem wie ihm je gestatten würde. Ihre einzige Erfahrung mit der Liebe hatte ihr nur Schande und Strafe gebracht und sie weit weg von allem, was ihr lieb war, ins Exil geführt. Sie hatte jedes Recht, überaus vorsichtig zu sein.
Das Hafenviertel lag im allgemeinen Dunkel, das nur hier und da von Inseln gelben Lichts von den Schiffslaternen unterbrochen wurde. Der eben aufgegangene Mond, einen Tag über den Vollmond
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