Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
sich viel mehr Sorgen um die Schander. Sie waren in einem treibhausähnlichen Bioklima aufgewachsen. Andererseits war nicht nur Inzucht der Grund dafür, daß sie immer kleiner geworden waren. Vielleicht hatte es auch mit dem Blei im Dach der Kathedrale und mit den rätselhaften Dingen zu tun, von denen Agnes nicht sprechen wollte.
Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit einem Geigerzähler der Sache auf den Grund zu gehen. Außerdem konnte er sich unten intensiv mit den Problemen der Landwirtschaft, der Nahrungsketten und mit medizinisch-biologischen Fragen befassen. Das erschien ihm sinnvoller als eine eigene Nabelschau.
Er blickte nach unten. Das Sakriversum sah aus wie nach einer Naturkatastrophe. Überall klafften tiefe Wasserfurchen in den Feldern. Einige Mulden waren noch immer überschwemmt. Männer, Frauen und Kinder arbeiteten gemeinsam in den verwüsteten Gärten und auf den Hügeln in der Nähe des Dorfes.
Eine Gruppe junger Männer versuchte, die Anlagen unten am Irrlichtmoor freizupumpen. Erst vor wenigen Minuten hatte Goetz von Lello gehört, daß die Schander dafür elektrische Energie einsetzen konnten.
»Wenn ich euch helfe, können wir die gröbsten Schäden in zwei drei Wochen behoben haben«, meinte Goetz. »Ich habe unten Spaten, Schaufeln und einen Motor-Kultivator gesehen. Ich weiß nur nicht, wie ich die Geräte hier ins Sakriversum bringen kann.«
»Gibt es nicht Glocken in den Türmen? Mit Seilen?«
Goetz schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, sie wurden schon lange mit Elektromotoren bewegt.«
»Wenn Guntram hier wäre, könnte er alles, was wir brauchen, hochfliegen ...«
Lello und Goetz sahen Agnes verwundert an.
»Meinst du denn, daß er ...?«
Goetz biß sich auf die Lippen.
»Natürlich kommt er wieder. Ich ... ich fühle es! Er will nur sehen, ob es noch einen anderen Platz gibt, an dem wir alle leben könnten.«
Goetz sah zur Westseite des Sakriversums. Die Felder wurden in rötlich-diesiges Abendlicht getaucht. Es roch nach Hunderten von Kräutern: betörend, würzig, wie auf einer Waldlichtung nach einem warmen Sommerregen. Die Erde dampfte noch.
»Ich muß zurück«, sagte Goetz. »Ihr solltet auch mal wieder eine Nacht schlafen! Morgen werden wir weiter sehen!«
»Ich bleibe im Haus von Meister Albrecht«, seufzte Lello. »Wenn Corvay mich erwischt, läßt er mich in einen Gitterkäfig sperren und dreimal täglich anspucken!«
»Du scheinst ihn gut zu kennen«, meinte Goetz.
Lello nickte stumm. Er strich sich nachdenklich die Haare aus der Stirn.
»Wenn ich nicht so verrückt gewesen wäre, die Schleusen aufzudrehen, hätte er mich vielleicht wieder aufgenommen. Doch jetzt ist auch sein Plan mit einem Feind von außen hinfällig geworden. Damit bin ich zum Staatsfeind Nummer eins geworden!«
Goetz sah den kleinen Burschen lange an.
»Soll ich dich mit nach unten nehmen?« fragte er schließlich.
Lello riß abwehrend die Arme hoch.
»Nach unten?« keuchte er entsetzt. »Du willst mich mit nach unten nehmen? Nein - eher lasse ich mich von Corvay vierteilen!«
»Ich könnte dich tragen.«
»Auf keinen Fall! Denkst du, ich will noch mehr von dem Gift einatmen? Der Weg vom Turm bis hierher war schon wahnsinnig genug! Nach dem Gesetz der Logik müßten wir alle hier total verseucht sein. Ich weiß, was Strahlenschäden sind ...«
»Ich auch«, sagte Agnes. »Nancy hat es mir erzählt. Vielleicht sind wir aus ganz verschiedenen Gründen davor geschützt!«
»Du meinst ... immer?« fragte Goetz verwundert.
»Was ist das?«
»Vielleicht ein Kräuterzauber«, höhnte Lello kopfschüttelnd. »Und wenn’s so wäre - ich glaube nicht an Schwarze Magie! Für mich reicht, was ich über Kernwaffen, Giftgase, Mikrowellen und die Baß-Vibration von Neutronenbomben alles weiß!«
Er kicherte. In seinen weit aufgerissenen Augen funkelte die Weisheit eines vom Wahn Befallenen.
»Ich habe lange genug unten gelebt, Goetz von Coburg! Ich hatte immer Angst, jeden Tag, jede Stunde! Zu klein geraten, verstehst du? Mißgeburt! - Wo ich auch hinkam, überall haben sie sich ausgeschüttet vor Lachen. Ich war ein Witz, ein Schoßhündchen, ein lächerliches Unikum, ein Spielzeug, ein Gegenstand ohne Herz und Verstand. Und ohne Seele ...«
Agnes war neben ihn getreten. Sie legte ihren Arm auf seine Schulter.
»Aber ich hatte eine Seele! Aus Angst vor noch mehr Lächerlichkeit wurde sie krank. Mein Körper wurde krank. Mein Blut und meine Eingeweide. Und wißt ihr, was sie
Weitere Kostenlose Bücher