Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
leuchtete ein Zahlenkode auf:
SCHLÜSSEL 19 ... SCHLÜSSEL 19 ...
Die Klappe des Wandschranks schlug plötzlich zu wie das Türchen an einer alten Kuckucksuhr. Goetz fuhr unwillkürlich zusammen.
Der Schlüsselbund!
Es lag bei den Sachen, die er am Abend angehabt hatte. Das Licht wurde immer schwächer. Er tastete sich zum Bett zurück. Die Schlüssel lagen neben dem Kopfkissen. Nummer neunzehn war ein winziger, unscheinbarer Magnetstreifen von der Art, wie ihn vor der Katastrophe nur einflußreiche Männer und Frauen als Spange am Kragen getragen hatten. Ein Verdienstkreuz mit Brillanten!
Wer diesen magnetisierten Generalschlüssel besaß, hatte Tag und Nacht Zugang zu allen mit dem roten Zeichen versehenen Türen der Stadt ...
Goetz löste den kleinen Stift vom Schlüsselring. Er ging zur Tür zurück, zögerte und führte dann den Splint in den roten Kreis ein. Die Magnetschlösser reagierten. Sie gaben ihm den Weg frei.
Goetz eilte durch den Vorraum, kletterte an den zusammengesunkenen Hebebühnen vorbei und verließ das Kommunikations-Zentrum.
Während er über die Stufen zur Krypta nach oben lief, fielen ihm die alten Entstehungsgeschichten der Kellerräume wieder ein. Sie waren einst als Erinnerung an die Katakomben Roms erbaut worden. Danach waren sie Unterkirchen und heilige Räume gewesen, in denen Reliquien aufbewahrt wurden.
Erst die gotische Baukunst hatte die Gebeine großer Verblichener aus dem Kellerdunkel wieder ans Licht gebracht. Seit Saint-Denis bei Paris waren die Kathedralen nach einem neuen Muster erbaut worden: aus geduckten, bollwerkartigen Kirchen waren die himmelwärts weisenden Denkmale eines neuen Glaubens entstanden.
Wie sehr viel später bei dem Versuch, Menschen von der Erde zum Mond zu bringen, hatten die Gläubigen des 13. Jahrhunderts versucht, Brücken zur Ewigkeit zu bauen, einem größeren Gott zur Ehre.
Die Kreuzfahrer brachten aus dem Osten neue Ideen mit. Eine neue Aufbruchsstimmung manifestierte sich. Steinmetze und Zimmerleute sammelten sich in den Bauhütten. Hunderte von Fronbauern, Werkleuten und Gesellen fällten Bäume, brachten mit Gespannen Steinblöcke zur Baustelle und zogen das Behauene an langen Seilen in die Höhe.
Tag um Tag mußten alle, die an der Kathedrale arbeiteten, mit Brot, Wasser und Gemüse versorgt werden. Wenn Bratenduft von Ziegen, Wildschweinen und Krammetsvögeln über die Hütten zog, sammelten sich Weibsleute und Kinder zu einem großen, lauten Fest, während die Kleriker durch die Dörfer zogen, um Geld für den Bau zu erbetteln ...
Goetz sah sich vorsichtig um, ehe er vor die Mensa des Hauptaltars trat. Das erste Morgenlicht tauchte das Mittelschiff der Kathedrale in einen stillen, pastellfarbenen Dämmerschein.
Goetz bemühte sich, leise zu gehen. Er wollte die andachtsvolle Stille nicht durch laute Schritte stören.
Als er das Portal erreichte, blieb er unter den Säulen stehen. Der Vorplatz war noch immer überschwemmt. Er brauchte eine Weile, bis er sich an das Licht des aufsteigenden Tages gewöhnt hatte. Der Himmel im Westen war noch dunkel. Bräunliche Schleier hingen bewegungslos über den Häusern, deren Ostgiebel bereits die ersten Sonnenstrahlen einfingen.
Goetz genoß die kühle, nachtfeuchte Luft. Gleichzeitig nahm er Gerüche auf, die ihn an Brand und Tod gemahnten. Er kam sich plötzlich einsam und verlassen vor. Die leere Stadt, die weite Wasserfläche auf dem Vorplatz und die hoch aufstrebenden Bogen des Portals machten ihn klein und unwesentlich.
Was sollte er noch? Wozu lebte er?
Er wußte nicht mehr, ob er die letzten Tage und Stunden nur geträumt oder wirklich erlebt hatte. Am liebsten wäre er in die Kathedrale zurückgegangen, hätte sich irgendwo niedergekniet und darauf gewartet, daß ihn Orgelklänge und ein Chor daran hinderten, weiter zu denken ...
»Nein!« murmelte er kopfschüttelnd. »Reiß dich zusammen, Mensch!«
Er durfte sich nicht gehenlassen! Das war gefährlicher als alles andere! Eine Weile dachte er daran, Lebensmittel aus den Vorratskellern zu bergen. Er konnte sie im Kirchenschiff aufschichten. An den Futterstellen lagen auch noch einige Reserven für zehn oder zwanzig Tage.
Es hatte keinen Zweck! Er merkte, daß er immer noch versuchte, sich etwas vorzumachen. Er mußte endlich einsehen, daß die automatischen Systeme ihn ausgesperrt hatten - ganz gleich, aus welchen Gründen ...
Die Kathedrale wollte ihn nicht mehr. Sie hatte ihm eine erste Zuflucht geboten, aber das war jetzt
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