Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
küsste das Fläschchen, bevor er sich in die Dunkelheit davonmachte.
V OGTEI A LTRIP
D ie Kuh hörte nicht auf zu blöken. Seit einer halben Stunde schon muhte sie ohne Unterlass. Thomasîn und die Knechte waren draußen beim Fischteich, also warf Isabelle sich ihren Umhang über und sah nach, was dem Tier fehlte, obwohl ihr Bauch bereits so aufgebläht war, dass sie sich fühlte wie eine fette, schwerfällige Kröte. Jede Bewegung, sei es nur der Weg vom Bett zur Küche, wurde von Tag zu Tag mühsamer. Zu allem Überfluss trat ihr das Kind bevorzugt in ihre empfindlichsten Teile, wenn ihr der Unterleib ohnehin wehtat.
Sie ging ständig zum Stall, wenn Winand gerade nicht dort war, und sah nach den Kühen und Schweinen oder spielte mit der grauen Katze, die immerzu im Stroh saß und darauf wartete, dass eine Maus auftauchte. Bei den Tieren fühlte sie sich weniger einsam, denn sie erinnerten sie an Salome, Curian, Rucio und all die anderen Gefährten von einst. Manchmal fragte sie sich, was ihre alten Schützlinge gerade taten – bis ihr wieder einfiel, was Chastain mit ihnen gemacht hatte.
Sie hatte ihnen Namen gegeben. Die Katze hieß Alice – etwas an ihrem Gesichtchen ließ sie an ihre Magd denken, obwohl das träge Geschöpf sonst keinerlei Ähnlichkeit mit dem quirligen Mädchen hatte. Die Rinder hatte sie nach Helden und Edeldamen aus der alten Zeit benannt, Siegfried, Krimhilde, Tristan und so weiter. Die Schweine hörten auf die wohlklingenden Namen Jaufré, Tancrède, Guibert, Jacques, Aimery und Hernance. Das fetteste und gemeinste hatte sie Ulman getauft.
Sie redete gern mit den Tieren. Sie waren gute Zuhörer.
»Was hast du denn, mein Schatz?«, fragte sie die Kuh, die immerzu muhte. Sie hieß Isolde. »Hast du dich verletzt?«
Sie spürte, dass das Tier Schmerzen litt. Wenn Thomasîn oder Winand es angefasst hätten, wäre es gewiss bissig geworden. Bei ihr jedoch beruhigte es sich augenblicklich. Als sie Isolde die Hand auf den Rücken legte, hörte sie auf zu blöken und stand still da, sodass Isabelle die Kuh untersuchen konnte.
Ein Holzsplitter, der in der Flanke steckte, über dem rechten Hinterbein. Er saß tief im Fleisch. Isolde hatte sich vermutlich an der Bretterwand gescheuert, die das Gehege vom Schweinekoben abtrennte. Die Wunde war leicht geschwollen und blutete. Kein Wunder, dass sie rasend vor Pein war.
»Das wird jetzt ein bisschen wehtun. Aber es ist gleich vorbei, versprochen.«
Sie packte den Splitter mit Daumen und Zeigefinger und zog ihn mit einer entschlossenen Bewegung heraus. Isolde zuckte zusammen und muhte noch einmal, doch das war alles. Gleich darauf fraß sie schon wieder friedlich ihr Heu.
»Das hast du fein gemacht«, murmelte Isabelle und streichelte ihr das Fell.
Sie bemerkte eine Bewegung zu ihrer Rechten und erblickte Thomasîn. Ihr Gemahl stand im Eingang des Stalls, in einen dicken Wollumhang gehüllt. Sein Atem dampfte in der Kälte.
»Sie hat sich einen Splitter eingefangen.« Isabelle zeigte ihm das Prachtstück.
»Wie schlimm ist es?«
»Ich denke, die Wunde wird gut verheilen. Isolde ist robust.«
»Isolde?«
Sie fluchte im Stillen. »So nenne ich sie.«
Überraschenderweise lachte er sie nicht aus. »Ein guter Name«, murmelte er, trat zu ihr und besah sich die Wunde. »Du verstehst etwas von Tieren. Das ist mir aufgefallen«, fügte er hinzu.
Ach, dachte sie.
»Ungewöhnlich für die Tochter eines Kaufmanns.« Er schaute sie an. »Woher hast du das?«
Sie zuckte mit den Schultern. Sie war nicht daran gewöhnt, dass er ihr Fragen stellte. Und wie hätte sie es ihm auch erklären sollen?
»Sie ist die beste Milchkuh, die ich habe. Isolde, ja?«
Sie nickte.
»Isolde.« Er rieb der Kuh über den Rücken und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Es war eine seltsam zärtliche Geste, die so gar nicht zu diesem grobschlächtigen und schweigsamen Mann passte. »Ich wünschte, Winand und Boso wären genauso geschickt. Würde mir viel Arbeit ersparen.«
Sie verließen das Gehege.
»Du solltest wieder nach drinnen gehen und dich ans Feuer setzen. Hier ist es zu kalt.« Er machte eine Handbewegung, die ihren Bauch meinte, als wollte er sagen: Das ist nicht gut für das Kind.
»Ich werde tun, was du wünschst.« Sie ging zur Tür.
»Isabelle.«
Sie wandte sich zu ihm um. Er schien etwas sagen zu wollen. Dann überlegte er es sich offenbar anders, griff mit seinen riesigen Händen nach einem Fass und schüttete Gemüsereste in den
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