Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
ergriff er das Kind und hielt es in den Armen. »Er ist ganz leicht. Er wiegt ja weniger als ein Ferkel.«
»Er wird rasch wachsen. Er hat einen gesunden Appetit.«
Ein scheues Lächeln umspielte seine Lippen, und da wusste sie: Er würde ihrem Kind niemals etwas zuleide tun.
»Wie soll er heißen?«
Isabelle hatte diese Entscheidung schon vor vielen Wochen getroffen. »Rémy.«
Er schwieg, und sie sah ihm an, dass er nach Worten suchte. »Heißt so sein Vater?«
»Sein Großvater.«
Er hatte sie nie nach dem leiblichen Vater ihres Kindes gefragt. Auch jetzt ließ er es dabei bewenden.
»Bist du einverstanden?«, fragte Isabelle.
»So heißt hier niemand. Die Leute werden sich wundern. Aber mir gefällt der Name. Rémy«, sagte Thomasîn und lächelte über das ganze Gesicht.
Juni 1190
T AURUSGEBIRGE IN K LEINASIEN
D er Boden erzitterte unter dem Stampfen der Pferdehufe. Männer brüllten. Staub wirbelte auf. Jean konnte kaum etwas sehen, als er sein Schwert zog und sich neben Raymond Fabre aufstellte. Es war unerträglich heiß unter seinem Helm und dem Panzerhemd, und der Schweiß strömte ihm nur so über den Leib. »Schützt die Proviantwagen!«, brüllte jemand, und im nächsten Moment war Fabre im Getümmel verschwunden. Mit einem Gebet auf den Lippen schaute Jean sich nach allen Seiten um, voller Furcht, ein Feind könnte sich in dem Durcheinander an ihn heranpirschen. Da! Durch den Staub kam eine Gestalt auf ihn zu, ein seldschukischer Krieger, der die Zähne bleckte und seinen Speer schleuderte. Jean riss seinen Schild hoch und spürte, wie die Waffe hart dagegenprallte, er rang um sein Gleichgewicht und dachte: Nicht stürzen! Wenn du fällst, bist du tot! Bevor der Türke seinen Säbel ziehen konnte, war Jean nach vorne getaumelt und hatte sein Schwert geschwungen. Die scharfe Klinge schnitt mühelos durch die Rüstung aus Lederlamellen, Blut spritzte, und der Türke stürzte röchelnd zu Boden …
Ein Kitzeln an der Wange weckte Jean. Benommen wedelte er mit der Hand und jagte eine dicke Fliege fort. Die Traumbilder verschwanden, doch das Klirren der Schwerter blieb. Schläfrig öffnete er die Augen und sah zwei Männer, die mit blanken Klingen aufeinander eindroschen, umhüllt von Staubschwaden. Es waren Fabre und Amalric, die sich wieder einmal im Schwertkampf übten. Yves saß daneben im Schatten und machte sich mal über den einen, mal über den anderen lustig.
»Nicht so lahm, Amalric. Ein Türke hätte dir jetzt schon zweimal den Wanst aufgeschlitzt.«
Jean stand auf und schlurfte zu dem Gebirgsbach am Rande des Heerlagers, um sich das verklebte Gesicht zu waschen. Dutzende Männer drängten sich an der schmalen Felsfurche, löschten ihren Durst an der Quelle oder tauchten den Kopf in das kühle Nass. Die Sonne brannte erbarmungslos, seit Tagen schon, Wasser war knapp, und nicht das kleinste Lüftchen sorgte für Abkühlung.
Sie lagerten irgendwo in den südlichen Ausläufern des Taurusgebirges nicht weit entfernt von der Stadt Seleukia, auf dem einzigen Felsplateau weit und breit, das genug Platz für Barbarossas Heer bot. Pferche für die Pferde und hunderte Zelte standen am Fuße zweier zerklüfteter Berghänge, dazwischen stieg schnurgerade der Rauch zahlloser Herdfeuer auf. Zehntausende Ritter und einfache Kreuzfahrer aus allen Fürstentümern des Reiches umfasste die Streitmacht des Kaisers, und alle sehnten sie sich danach, endlich dieses staubtrockene und von Gott verlassene Gebirge im Süden Kleinasiens zu verlassen.
Nachdem er sich gewaschen hatte, suchte sich Jean ein schattiges Plätzchen neben einem Felsen und betrachtete die gezackten Gipfel, die sich scharf gegen den azurblauen Himmel abzeichneten. Während ihres beschwerlichen Marsches über die steilen und windgepeitschten Pässe des Taurus hatte er diese Gegend so manches Mal verflucht; dennoch konnte er nicht bestreiten, dass die raue Schönheit der Berge sein Herz rührte, besonders in den Abendstunden, wenn die Farben des Himmels und der Felsen beinahe magisch wirkten. Manchmal ängstigte ihn dieses Land auch ein wenig. Ein alter Ritter, der schon einmal im Heiligen Land gewesen war, hatte ihm erzählt, in den trockenen Ebenen und sonnenverbrannten Hügeln Kleinasiens hausten Geister, von den Einheimischen Dschinns genannt, die noch tückischer und gefährlicher seien als die Kobolde und Faune ihrer Heimat. Seit Jean das wusste, zuckte er jedes Mal zusammen, wenn am Wegesrand Staub aufwirbelte oder der Wind
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