Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
das Unheil seinen Lauf nahm. Muss wieder ein Schwurbruder aufs Rad geflochten werden, damit ihr endlich aufwacht?«
Le Roux setzte zu einer zornigen Erwiderung an. Michel wechselte einen raschen Blick mit Duval, der unauffällig nickte. »Hört auf zu streiten, das führt zu nichts«, fiel er Le Roux ins Wort. »Ich weiß, viele von euch wollen das nicht hören, aber ich glaube, Fromony und Thibaut haben recht. Wenn wir jetzt nicht einlenken, werden wir das bitter bereuen. De Guillory hat doch jetzt bewiesen, dass er nicht einmal vor Mord zurückschreckt. Ich möchte nicht verantworten müssen, dass er noch einen Schwurbruder tötet.«
»Das heißt, Ihr wollt Euch ihm kampflos geschlagen geben?«, fragte Voclain. Der junge Kaufmann war immer ein Bewunderer Michels gewesen, und seine Enttäuschung sprach aus jeder Silbe.
»Nur für den Moment. Er ist zu stark für uns, ob es uns gefällt oder nicht. Wir müssen warten, bis sich uns eine bessere Gelegenheit bietet, zu unserem Recht zu kommen.«
»Und wann soll das sein?«, wollte Albert wissen.
»Das weiß ich nicht. Aber ich rate euch, Geduld zu haben. Wenn ich in den letzten zehn Jahren eines gelernt habe, dann, dass es klüger ist, den rechten Moment abzuwarten, statt vorschnell zu handeln.«
»Sind alle damit einverstanden?«, fragte Duval die Schwurbrüder.
Le Roux, Albert und Voclain machten keinen Hehl aus ihrer Wut und Verbitterung, doch keiner von ihnen widersprach.
»Glaubt uns, es ist besser so«, sagte Duval. »Jetzt geht nach Hause und betet für Melvilles Seele. In zwei Wochen kommen wir wieder zusammen und wählen einen neuen Meister.«
Ohne den Rückhalt der Gilde verloren die Kleinkrämer, Stadtbauern und Handwerker rasch ihren Mut. Nach und nach beugten sie sich den städtischen Zöllnern und Marktaufsehern. Bald sprach niemand mehr von Mathieu de Lorraines Dekret gegen die unchristliche Steuerlast.
Die Wirte wurden öffentlich mit vierzig Stockhieben gezüchtigt. Beide überlebten schwer verletzt. Einer wurde durch die Strafe zum Krüppel und war fortan von der Mildtätigkeit seiner Familie abhängig.
Am nächsten Tag entrichteten wieder alle Bürger Zölle und Abgaben in voller Höhe.
So endete die kürzeste Rebellion in der Geschichte Varennes’.
»Es steht außer Frage, wer der nächste Gildemeister wird«, sagte Duval wenige Tage vor der Versammlung der Schwurbrüder, als sie in Michels Stube zusammensaßen. »Ihr natürlich.«
»Ich werde mich nicht zur Wahl stellen«, erwiderte Michel.
»Wieso nicht, beim heiligen Jacques? Ihr wart der beste Meister, den wir je hatten. Wenn jemand die Gilde aus diesem Jammertal herausführen kann, dann Ihr.«
»Wenn die Gilde mich wählt, landen wir noch tiefer im Jammertal. De Guillory würde das als Kriegserklärung auffassen und alles daransetzen, uns zu vernichten. Und Ihr wisst, dass wir diesen Kampf verlieren würden, so wie es gerade um uns steht.«
Duval lehnte sich zurück und schwieg. »So habe ich das noch nicht betrachtet. Ja, das könnte geschehen.« Ratlos rieb er sich die Nase.
»Was wir jetzt brauchen«, sagte Michel, »ist ein Meister, der unsere Interessen vertritt, ohne dass de Guillory es als Affront auffasst. Ein Mann, der in der Lage ist, gemäßigt aufzutreten und zwischen den Lagern zu vermitteln. Der sich schützend vor die Gilde stellt, wenn es nötig ist.«
»Eine nahezu unmögliche Aufgabe. Keiner von uns besitzt so viel Weisheit und Stärke.«
»Doch. Ihr.«
»Nein«, sagte Duval. »Nein, auf keinen Fall. Ich bin nur ein alter Säufer mit dem Herzen eines Krämers. Ich würde alles nur noch schlimmer machen.«
»Ihr seid einer der klügsten Männer, die ich kenne. Ihr versteht mehr von unseren Gesetzen als so mancher gelehrte Legist. Und die jungen Mitglieder hören auf Euch.«
»Trotzdem. Ich bin diesem Amt nicht gewachsen.«
»Wer soll es sonst machen? Nemours? D’Alsace? Auf keinen Fall. Und Le Roux ist ein Hitzkopf – er würde uns in Teufels Küche bringen.«
»Einer der Jungen soll zeigen, was er kann.«
»So sehr ich Albert und die anderen schätze, aber ihnen fehlt die Erfahrung.«
»Ihr hattet damals auch keine Erfahrung.«
»Ich hatte berechenbare Gegner. Heute ist das Leben in Varennes unübersichtlicher und gefährlicher. Außerdem haben wir Krieg. Niemand weiß, was die Zukunft bringt.«
Duval stand auf, ging in der Stube umher und warf die Arme in die Luft. »Wieso müsst Ihr mich so in die Ecke drängen? Habt Erbarmen mit mir!«
»Ihr
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