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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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Haar stumpf und ihre Haut bleich, fast allen waren die Fingernägel gesplittert und die Mundwinkel eingerissen. Hätten die Mönche der nahen Benediktinerabtei nicht ihre Kornspeicher geöffnet und das Getreide zu einem Bruchteil des Marktpreises verkauft, hätte es in den eisigen Wochen nach Lichtmess gewiss eine Hungersnot gegeben. Knapp zwei Monate waren seit dem Raubzug vergangen, doch das Grauen jenes Tages saß den Bauern immer noch in den Leibern. Immerzu blickten sie zum Horizont, in der ständigen Furcht, die Horde könnte zurückkehren und ihnen auch den letzten Rest ihrer Habe nehmen.
    Krieg ist sinnlos und dumm, dachte Isabelle auf dem Weg zum Gehöft, und sie konnte förmlich hören, wie Michel diese Worte sprach. Er sagte noch ein paar andere Dinge, »Du fehlst mir« und »Ich wünschte, du wärst da«, doch sie hörte ihm nicht zu. Sie hatte sich angewöhnt, sofort an etwas anderes zu denken, wenn die Sehnsucht sie überkam. Ihr Leben war hart genug, auch ohne dass sie sich törichten Fantasien hingab. So tat sie es auch diesmal. Im Geiste ging sie ihre Aufgaben für den heutigen Tag durch, und das waren nicht wenige. Es klappte. Als sie zum Gehöft kam, herrschte Ordnung in ihrem Innern, und sie hatte ihre Gefühle wieder im Griff. Fürs Erste, zumindest.
    Boso stand vor dem Haupthaus und hackte Holz. Die Katze lag in der spärlichen Morgensonne auf der Mauer und beobachtete ihn mit halb geöffneten Augen. Rémy schien immer noch in der Stube an seinen Schreibübungen zu sitzen. Glücklicherweise musste sie ihn nie zwingen, jeden Tag eine Stunde zu üben. Seit sie begonnen hatte, ihn lesen und schreiben zu lehren, war er mit Feuereifer dabei – Ganz der Vater, dachte sie und verbannte den Gedanken rasch –, und er war schon jetzt besser, als Thomasîn jemals werden würde.
    »Wo ist mein Gemahl?«, fragte sie Boso.
    »Weiß nicht. Hab ihn seit dem Morgenbrot nicht gesehen.«
    Isabelle unterdrückte ein Seufzen. So verzweifelt hatte sie Thomasîn noch nie erlebt. Die Trauer um Winand saß wie ein bösartiges Geschwür in seiner Seele, fraß sich immer tiefer hinein und verzehrte Stück für Stück seinen Lebenswillen. Er vernachlässigte seinen Hof, die Arbeit, das Vieh, und wenn er nicht bei den Fischteichen war, wo sie seinen Liebsten begraben hatten, kauerte er vor dem Haus und schüttete Unmengen von Bier in sich hinein.
    Was hatte sie nicht alles versucht, um ihn aus der Dunkelheit zu führen. Doch nichts half, kein freundliches Wort, keine liebevolle Geste, kein Gebet zu den Heiligen und Erzengeln. Thomasîn hatte sich aufgegeben, und mit jedem Tag, der verging, entglitt er ihr mehr.
    Wo soll das bloß hinführen?, dachte sie, während sie das Kalb zum Stall führte. Was, wenn er sich etwas antut? Sie fürchtete schon lange, er könnte versuchen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sie konnte nur hoffen, dass ihn die Sorge um sein Seelenheil von Dummheiten abhielt. Denn ihn von früh bis spät zu überwachen stand nicht in ihrer Macht.
    Sie führte das Kalb in den Stall und gab ihm frisches Heu. Es war das erste Mal, dass es ohne seine Mutter war, und die fremde Umgebung ängstigte es. Isabelle streichelte es und redete leise auf es ein, bis es sich schließlich beruhigte und zu fressen begann.
    Als sie Stimmen hörte, blickte sie aus dem Fensterschlitz in der Rückwand des Stalls. Thomasîn kam aus dem kleinen Schuppen, der hinter dem Haupthaus stand. Sie benutzten den Verschlag seit Jahren kaum noch, und er enthielt nichts als Gerümpel. Was tat er dort? Ein zweiter Mann trat ins Freie, Johann, ein junger Bauer aus dem Dorf. Er lachte und küsste Thomasîn auf den Mund. Ohne das Lachen zu erwidern, zerzauste Thomasîn ihm das blonde Haar. Johann lief die Böschung hinab, drehte sich noch einmal um, winkte und verschwand zwischen den Büschen.
    Isabelle kniff die Lippen zusammen. Sie konnte nicht behaupten, dass sie überrascht war. Thomasîn machte seit einiger Zeit Andeutungen. Knappe, rätselhafte Bemerkungen, aus denen sie gefolgert hatte, dass er sich seit zwei, drei Wochen mit einem Burschen aus der Gegend traf. Mit einem Mann, der seine Neigungen teilte, der ihn wenigstens für eine kurze Weile seinen Schmerz vergessen ließ. Niemals hätte sie dabei an Johann gedacht – der junge Bauer hatte Frau und Kinder –, doch das war es nicht, was sie schockierte. Es war Thomasîns Leichtsinn, der ihr einen Schrecken einjagte. Früher hätte er sich niemals mit Winand zurückgezogen, wenn die

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