Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Gelegenheit, der ganzen Stadt dein neues Kleid zu zeigen.«
»Ich würde empfehlen, dass Ihr ein schlichteres anzieht«, sagte Michel. »Wo wir hingehen, könnte es schmutzig werden.«
»Jetzt bin ich wirklich neugierig«, erwiderte Isabelle.
»Ihr habt doch nicht vor, meine Tochter an einen unschicklichen Ort zu führen?«, fragte ihre Mutter besorgt.
»Ihr habt mein Wort, dass ich gut auf sie aufpasse.«
Zufrieden mit sich, wartete Michel auf dem Gang, während Isabelle sich in ihrer Kammer umzog. Wegen der geschlossenen Tür konnte er nicht verstehen, was die drei Frauen redeten. Es gab jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ununterbrochen kicherten.
Schließlich kam Isabelle heraus. »Ist das schlicht genug?«
Sogar in diesem einfachen grauen Leinengewand sah sie wunderschön aus.
»Einfach perfekt.«
Es war ein vollkommener Abend, warm, aber nicht zu heiß. Eine angenehme Brise strich durch das Moseltal, und die untergehende Sonne färbte die Wolkenschlieren am Himmel orange und golden. Sie schlenderten einen Pfad zwischen den Gerstenfeldern westlich der Stadt entlang, im Schatten der Birken, die den Weg säumten. Marie hatte darauf bestanden, dass Alice sie begleitete, Isabelles Magd, ein junges Ding mit braunen Locken und einem herzförmigen Gesicht. Alice folgte ihnen im Abstand von zehn, fünfzehn Schritten. Das war nah genug, dass der Anstand gewahrt blieb, aber nicht so nah, dass die Magd sie störte.
»Ist es noch weit bis zu deinem mysteriösen Geheimnis?«, fragte Isabelle.
»Es ist ein gutes Stück von der Stadt entfernt«, antwortete Michel. »Ein wenig musst du dich schon noch gedulden.«
»Sieh mal da, die Saatkrähen.« Sie deutete auf ein Krähenpärchen, das auf einem Ast saß, während ein Vogel dem anderen das Gefieder putzte. »Wusstest du, dass zwei Krähen, wenn sie sich gefunden haben, ihr ganzes Leben zusammenbleiben?«
»Wirklich?«, erwiderte er verblüfft.
»Ja. Beinahe so, als führten sie eine gute christliche Ehe. Ist das nicht interessant?«
Michel hatte Krähen immer für Aasfresser und Unglücksboten gehalten – dass sie derart noble Eigenschaften hatten, hörte er zum ersten Mal. Und das war beileibe nicht das Einzige, was er heute gelernt hatte. Isabelle liebte Tiere nicht nur, sie beobachtete sie aufmerksam und studierte ihr Verhalten. Zu jedem Geschöpf, das ihnen auf ihrem Spaziergang begegnete – seien es Feldmäuse, Sperlinge oder die fetten Karpfen in den Fischteichen –, wusste sie Interessantes und Wundersames zu berichten. Sie war wahrhaftig eine außergewöhnliche Frau. Bei allem, was sie sagte und tat, spürte man, wie sehr sie das Leben in all seinen Facetten liebte. Niemals gab sie sich mit oberflächlichen Eindrücken zufrieden – stets schaute sie genau hin und versuchte, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Als sie den Waldrand erreichten, blieb Michel stehen.
»Da müssen wir hinein?«, fragte Isabelle.
»Allerdings.«
Alice schloss zu ihnen auf. »Ich möchte nicht in den Wald gehen. Er macht mir Angst.«
»Wieso wartest du nicht hier auf uns?«, schlug Michel vor. »Setz dich hin und ruh dich ein wenig aus. In spätestens einer Stunde sind wir zurück.«
»Aber die Herrin hat gesagt, ich soll bei euch bleiben.«
»Die Herrin muss es ja nicht erfahren. Sieh mal, hier ist ein Sou. Wenn du mir dein Wort gibst, dass du ihr nichts verrätst, bekommst du ihn.«
Die Magd starrte die Schillingmünze mit großen Augen an und nickte stumm. Michel drückte ihr den Sou in die Hand und ging voraus in den Wald.
»Das ist ganz schön ungezogen, Michel«, sagte Isabelle. »Einfach unsere Anstandsdame zu bestechen.«
»Wenn sie sich doch fürchtet«, gab er lächelnd zurück. »Wir sind jetzt besser leise, es ist nicht mehr weit.«
Er war schon lange nicht mehr hier gewesen, aber dieser Teil des Waldes hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Der alte Pfad schlängelte sich immer noch zwischen den moosbewachsenen Baumstämmen, den verwitterten Felsen und den Haufen von abgestorbenem Holz hindurch, halb verborgen unter Farnen und Sträuchern.
Michel ergriff Isabelles Hand und führte sie tiefer in den Wald.
»Wohin gehen wir?«
»Zu einer Lichtung, die Jean und ich entdeckt haben, als wir Kinder waren. Ich hoffe, sie ist noch so wie damals.«
Der Pfad verlor sich irgendwo im Gestrüpp. Sie erklommen eine Böschung und schlichen durch das Unterholz, das sich zwischen den Bäumen auftürmte, bis sich schließlich die Lichtung vor ihnen
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