Das Salz der Mörder
Richtung
Berlin.
„Ich
kann die Szene nicht vergessen, wie diese drei Typen auf das dünne Eis
losmarschiert sind. Kennen Sie sich mit der Anomalie des Wassers aus? Ich habe
mich schlau gemacht. Wobei bei den meisten Stoffen die Dichte mit abnehmender
Temperatur zunimmt, ist dies bei Wasser nur oberhalb von plus 4° Celsius der
Fall. Wird Wasser unter 4° Celsius abgekühlt, so nimmt die Dichte wieder ab.
Infolge dieser Eigenschaft gefriert im Winter das Wasser zunächst an der
Oberfläche; unter der Eisdecke bleibt das Wasser flüssig, die Temperatur nimmt
mit der Wassertiefe zu und beträgt am Boden plus 4° Celsius. Für das
pflanzliche und tierische Leben Unterwasser ist diese Tatsache von
entscheidender Bedeutung, für Menschen offenbar nicht. Die erfrieren trotz der
vier Plusgrade. Merkwürdig, nicht wahr?“
„Mensch,
Möller, die Anomalie des Wassers. Haben Sie mal daran gedacht, dass diese Frau
im roten Mantel sie erkannt haben könnte? Stellen Sie sich vor, die gehört zu
der Hansen-Clique an der Nordsee. Das wäre doch durchaus denkbar. Überlegen Sie
mal: der Stottinger erpresst die Wegner, der Aichinger ist sein Komplize von
der Polizei, und mit einem Mal sind beide tot. Da könnte es vielleicht einen
Zusammenhang mit dem Dorf im hohen Norden geben. Dort sind Sie noch vor ein
paar Wochen, ohne jede Scham zu zeigen, wie Arnold Schwarzenegger durch die
halbe Ortschaft gejoggt. War es etwa das, was Sie mir erzählen wollten?“
„Nein,
wahrhaftig nicht. Diese Möglichkeit hatte ich nicht in Erwägung gezogen. Ich
hoffe, Sie haben Unrecht. Es ist nur . . .“
„Es
ist nur . . .? Möller, Sie werden alt. Mir scheint, Ihre Intuition lässt nach.
Wenn Sie nicht über Ihre Unfähigkeit sprechen wollen, was kann es sonst sein?“
„Ich
weiß nicht, wie ich anfangen soll. Es betrifft Ihren Herrn Schwiegervater,
Bernhard von Bentheim, und den Vater von Manfred Wegner, Herbert Wegner.“
„Was
haben denn die beiden plötzlich miteinander zu tun?“
„Ja,
das ist wirklich kurios. Am Landgericht Potsdam begann vor Kurzem der Prozess
gegen einen früheren DDR-Richter. Der Mann heißt Arthur Mäser und ist
neunundsiebzig Jahre alt. Dieser Mäser sagte aus, dass ein Leutnant Bernhard
von Bentheim im Winter 1943, einige Tage bevor die 6. Armee Anfang Februar in
Stalingrad kapitulierte, von seiner Einheit desertiert sei. Mit gefälschten
Papieren und Marschbefehlen ausgestattet, erreichte er - teilweise zu Fuß,
teilweise per Anhalter - über Umwege Danzig. In Danzig angelangt, bestieg er
ein Schiff und kam über die Ostsee nach Deutschland. Auf diesem Schiff lernte
er einen Holländer, einen gewissen Bernd van Benthen kennen. Sie amüsierten
sich über die Ähnlichkeit ihrer Namen. Bernd und Bernhard, van Benthen und von
Bentheim, sie lachten. Und durch diese lustige Namensverwandtschaft kamen sie
sich näher, sie wurden Freunde. Ihr Schwiegervater floh mit van Benthen
unerkannt nach Amsterdam, um sich dort bis Kriegsende zu verstecken. Was er
nicht wusste, war, dass seine Kompanie kurz nach seinem Verschwinden
überraschenderweise von der Ostfront nach Holland abkommandiert wurde. Davon
erfuhr er erst zwei Jahre später. Am 17. Mai 1945 - Generalfeldmarschall Keitel
unterzeichnete in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation
Deutschlands ja bekanntermaßen schon am 9. Mai, also neun Tage nach Hitlers
Selbstmord – da besuchte Ihr Schwiegervater hocherfreut seine ehemalige
Einheit, die von kanadischen Soldaten gefangengenommen, entwaffnet und in ein
Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Amsterdam interniert worden war. Doch die
alten Kameraden begrüßten ihren Gast und einstigen Zugführer auf eine sehr
merkwürdige Art und Weise: Leutnant Bernhard von Bentheim wurde wegen
Fahnenflucht angeklagt, von einem eilig zusammengestellten Feldgericht zum Tode
verurteilt und noch am selben Tag durch ein Exekutionskommando erschossen. Die Gewehre
dafür händigten die Kanadier ihren deutschen Kriegsgefangenen eigens zu diesem
Zweck wieder aus. Unglaublich ist das, nicht wahr? Übrigens war der leitende
Richter des Feldgerichts der aus Potsdam stammende Arthur Mäser. Nach einem
Jahr Gefangenschaft in Holland kehrt Mäser zurück in seine Heimatstadt und
studiert ab Herbst 1948 in Moskau Jura. Er wird Mitglied der KPdSU, dann der
SED. Während fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bei uns die wenigen alten
Nazis, die von den Alliierten verurteilt worden waren, freigelassen und
rehabilitiert werden, werden
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