Das Salz der Mörder
vorstellen, Erwin: Hunderttausende hacken an der Mauer von
Berlin, um nur ein einziges betoniertes Souvenir von unserem antifaschistischen
Schutzwall zu ergattern, diesem Schandfleck für humanistisch denkende Menschen,
und dann beginnt die große Abwanderung. Als ich an diesem historischen Tag von
der Arbeit komme, mein klappriges Fahrrad an die Hofwand lehne und es wie eh
und je umständlich an den Resten einer uralten bleiernen Wasserleitung anketten
will, ruft eine Nachbarin markerschütternd aus dem fünften Stock herunter – und
es schallt im ganzen Karree mehrmals hin und her: ‚Grüß dich, Freddy. Hör doch
mal: Die Vroni und deine restliche Familie haben heute früh – es war wohl kurz
nach sechs - den real nicht mehr funktionierenden Sozialismus Hals über Kopf
verlassen. Hast du mich verstanden, Freddy? Die haben die Kurve gekratzt. Mit
Sack und Pack. Hörst du mich, Freddy? Dein hübscher Trabi ist auch weg. Weißt
du was davon? Hat sie dir nichts gesagt?’
‚Blöde
Kuh!’ schreie ich leise gegen mein beschissenes Fahrrad. Hinter und über mir
öffnen sich mehrere Fenster gleichzeitig - ich kenne diese Geräusche. Ich fühle
unzählige Augenpaare auf mich gerichtet. Immer noch hocke ich vor meinem Rad
und bemühe mich fieberhaft das Fahrradschloss zu schließen. Durch einen
innerlichen Schmerz verkrampft sich mein Magen, eine ungewöhnliche Röte
verfärbt mein Gesicht. Beim Aufstehen stecke ich meinen Schlüssel in die
Hosentasche, und um mir kein Armutszeugnis über meine familiären
Unzulänglichkeiten auszustellen, halte ich den Stinkefinger in die Höhe und
versuche einigermaßen gelassen die Tür zum Treppenhaus zu erreichen.
Es
ist vierzehn Uhr dreißig. Ich bin im Hausflur. Unbewusst drücke ich am
helllichten Tag auf den Lichtschalter. Im Zwielicht stürme ich die Stufen
empor, überspringe zwei, drei mit einem Mal. Meine leere Aktentasche mit der
leeren Brotbüchse, die mir Vroni noch am Morgen gefüllt hatte, schleudert wie
von selbst gegen mein linkes Knie. Mit meiner rechten Hand ziehe ich mich –
ohne es zu wissen – an dem alten, verschnörkelten Treppengeländer empor.
Unerwartet flimmern diese Fernsehbilder vor mir auf. Und ich sehe Vroni in
ihrem Sessel hin- und herrutschen, nervös die Tagesschau verfolgend:
BRD-Außenminister Hans-Dietrich Gen-scher hält auf dem Balkon der Deutschen
Botschaft in Prag eine kurze Ansprache, irgendetwas wie Ausreise schallt über
die Massen hinweg, Menschen jubeln. Vroni jubelt auch. Ihr sind die
Ausreiseaktionen unserer aufsässigen DDR-Bürger in den bundesdeutschen
Botschaften in Warschau, Budapest und Prag zu Kopf gestiegen.
Ich
bin außer Atem, ich bin außer mir, und mir ist klar – nein, mir ist nicht klar
-, ob Vronis Wohnungstürschlüssel von innen stecken wird oder nicht. Heute hat
sie Haushaltstag, also müsste sie um diese Uhrzeit zuhause sein, und Kaffee und
Kuchen warten auf mich. Ich reiße endlich das verdammte Schlüsselbund aus
meiner Hosentasche, und irgendwie fühle ich, dass heute etwas falsch gelaufen
ist. Mit einer kümmerlichen Anwandlung von Hoffnung, schiebe ich langsam meinen
Schlüssel in das unschuldige Schlüsselloch und stoße nicht auf den geringsten
Widerstand. Ich schließe die Tür auf. Wie gewöhnlich werfe ich meine
Aktentasche auf die Flurgarderobe und gehe in die Küche, doch diesmal mit
hängenden Schultern und gesenktem Kopf.
Ohne
zu wissen, wie und was, stehe ich schwankend vor dem abgeräumten Tisch, den ich
noch am Morgen ahnungslos mit meinem verschmutzten Frühstücksgeschirr
zurückgelassen hatte. Ja, ich stehe da und starre auf den leeren Tisch. Nein,
leer ist er nicht. Ein Blatt Papier, herausgerissen aus einem von Dannys
Schulheften, liegt auf der geblümten Wachstischdecke. Ein Blatt im Format A5.
Vroni kennt meine unerklärliche Aversion gegen dieses Papierformat. Ich habe
Angst. Mir sind die Knie weich geworden. Ich beuge mich unsicher über den Zettel
und stütze meine Arme auf Tischplatte und Stuhllehne ab. Noch weiß ich nicht,
was ich zu lesen bekommen werde. Und meine Angst wird unbewusst größer. Doch
dann prügeln Vronis achtlos dahin geschmierte Zeilen wie Knüppel auf mich ein:
Ich hätte zu akzeptieren, dass sie mich mit unseren Kindern für immer verlässt,
mich jedoch über alles liebt, obwohl ich ein Waschlappen und Arschloch sei. Wir
würden uns eines Tages im Himmel wiedersehen, um dort oben unsere Liebe
fortzusetzen. Auf dieser Erde ginge das nicht mehr, denn die Zeiten
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