Das Salz der Mörder
Kinder
für unsere Zukunft, für unsere Welt nach dem apokalyptischen Desaster. Allein
wir, die Auserwählten des Erlösers, werden das Goldene Zeitalter erblicken!“
Es
stand für mich eindeutig fest: Diese Frau, die vor mir saß, war wahnsinnig.
18. Die Befreiung
Die
Frau, die vor mir saß, war wahnsinnig. Sie stand auf und verließ wortlos den
Raum. Wer war diese Frau Dr. Hansen? Alle tanzten nach ihrer Pfeife, folgten
ausnahmslos ihren Anweisungen und Befehlen, ohne Widerspruch. Welch eine Macht
besaß sie. Sie formiert Ärzte um sich, Akademiker, wer weiß, wen sonst noch.
Waren die auch unzurechnungsfähig? Wie viele mögen hier im Dorf leben? Ich
verstand die Welt nicht mehr. Ein ganzes Dorf voller Irrer, das gibt’s doch
bloß im Film. Ist denn unter all den Wahnsinnigen kein normaler Mensch, der
imstande ist uns aus diesem möblierten Gefängnis zu befreien? Im selben
Augenblick kam Maria ins Zimmer. Sie trug ein großes Bündel Wäsche unter dem
Arm und fragte schüchtern: „Wie geht es Ihnen jetzt? Fühlen Sie sich gut? Ich
wurde auserwählt Ihre Dienerin zu sein. Ich bin diejenige, die Sie von den
Gurten befreien darf, nachdem ich Ihnen den Katheter entfernt habe. Dann können
Sie in den Nebenraum gehen und sich frisch machen. Dort befinden sich Toilette
und Bad. Es ist alles da, was Sie brauchen. Ihre Sachen sind hier im Schrank. Ich
werde inzwischen die Bettwäsche wechseln. Anschließend serviere ich uns ein
delikates Abendessen und darf Ihnen danach noch ein wenig Gesellschaft leisten,
wenn Sie es wünschen. Ich bin fernerhin berechtigt all Ihre Fragen zu
beantworten, vorausgesetzt ich bin dazu in der Lage. Was möchten Sie zum Essen
trinken? Es gibt übrigens ‚Seezungenfilets mit Champignons und Tomaten‘. Dazu
würde Frau Hansen einen ‚Badischen Grauburgunder‘ empfehlen. Was meinen Sie?
Ich hoffe, Sie mögen Fisch. Wir haben eine ausgezeichnete Köchin für unsere
Seminarteilnehmer. Wenn Sie gern lesen möchten, kann ich Ihnen sehr
anspruchsvolle Literatur empfehlen. Unsere Bibliothek steht jedem zur Verfügung
und ist außergewöhnlich umfangreich. Ich soll Sie außerdem darauf hinweisen, dass
dieser und der Nebenraum selbstverständlich von Kameras und Mikrofonen
überwacht werden. Darf ich Sie jetzt von allem befreien? Werden Sie mir etwas
tun?“
Hat versalzen dir
die Suppe deine Frau,bezähm die Wut, sag ihr lächelnd:"Süße Puppe, alles,
was du kochst, ist gut"(Heinrich Heine)
19. Vronis Nachrichten
Am
9. November 1989, exakt dreizehn Stunden, bevor ein gewisser Genosse Schabowski
vom Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands während einer
internationalen Pressekonferenz aus Dumm- oder Unwissenheit die Staatsgrenzen
der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik öffnen ließ, verschwand Vroni
mit den Kindern. Sie flüchtete mit unserem ausgemergelten Trabant-Kombi über
die Tschechoslowakei in Richtung Bayern. Ja, meine Frau flüchtete von oder vor
mir. Meine Mutter zuckte mit den Achseln, die Schwiegereltern mit den
Schultern, ich schüttelte mit dem Kopf und blieb zurück, als sei nichts
geschehen und nichts passiert.
Von
nun an lebte ich allein und ging unverdrossen meiner gewohnten Arbeit nach.
Jeden Tag wanderte ein anderer Kollege auf Nimmerwiedersehen ab oder aus oder
weg. Jeden Tag erhielten wir eine farbigere Ansichtskarte aus dem „Goldenen
Westen“. Zum Schluss arbeiteten bloß noch mein Chef und ich auf dem einsamen
Gelände der Autowerkstatt „Flotter Trabi“. Wir sahen uns an, wir sahen auf den
verwaisten Hof, sahen auf den verrosteten Schrotthaufen, den wir betriebsintern
Ersatzteillager nannten, und wussten, dass der Laden so nicht mehr
aufrechtzuerhalten war, denn sogar unsere Kundschaft suchte das Weite. Und was
ich stets für undenkbar gehalten hatte, trat plötzlich ein: niemand wollte mehr
Trabant oder Wartburg fahren, niemand wollte mehr unsere DDR-Musik hören - es
war ja auch niemand mehr da. Die gesamte, vereinigungswillige, vormals
fahnenschwingende Ostmenschheit ging auf Wanderschaft und hielt nach buntem
Westkonsum Ausschau. Schließlich - ich konnte es nicht mehr für mich behalten -
erzählte ich meinem Boss, mit dem ich auf zwei Stapeln runderneuerter
Autoreifen saß und lauwarmen Nescafé trank, von dem Verschwinden meiner Frau
und meiner Kinder, von dem Verschwinden Veronikas, Daniels und Gabrieles.
„Ich
kann das gar nicht oft genug wiederholen: Meine Leute sind einfach weg! Das
muss du dir mal
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