Das Salz der Mörder
hätten sich
geändert und sie sich auch. Ich wäre noch derselbe Idiot, der nichts begreift,
derselbe, den sie in jener jämmerlichen hässlich grünen Armeeuniform am
Riesenrad im Plänterwald kennen lernte, der ihr damals den Verstand raubte,
dasselbe Großmaul, das heute nach dem Bumsen einschläft und dabei nicht einmal
nach Westparfüm stinkt, weil es keine Westverwandtschaft hat. Außerdem und
abschließend gäbe es in der beschissenen DDR keine Wassermelonen und Negerküsse
zu essen, keinen Tapetenkleister und Zement zu kaufen, wenn man ihn braucht.
Dass
aber ihr Großvater im Dritten Reich als überzeugter Kommunist das KZ Buchenwald
nicht überlebte und ihre Eltern stolze SED-Genossen unter Ulbricht und Honecker
waren, hatte sie in der Aufregung und unter 3,8 Promille Alkohol im Blut
anscheinend völlig vergessen in ihrem lächerlichen Schriftstück zu erwähnen.
‚Opa Buchwald war im Buchenwald’, sagte sie manchmal, und ich weiß bis heute
noch nicht, ob das ein Witz sein sollte.
Mir
ist heiß geworden an diesem kalten Novembertag. Schweiß tropft auf das
DIN-A5-Blatt. Ja, der Schweiß tropft von meiner Stirn, obwohl das Küchenfenster
sperrangelweit offen steht. Ich muss mich setzen. Kann ich wirklich nicht mehr
richtig bumsen, frage ich mich? Ist es schon soweit, dass ich genauso impotent
bin wie mein eigener Staat? Unfähig jeglichen Gefühls?
Wie
gesagt, Erwin, solch einen Schwachsinn konnte sie wahrhaftig nur unter starkem
Alkoholeinfluss geschrieben haben. Diese Erkenntnis hilft mir allerdings nicht
viel weiter. Ich renne ins Schlafzimmer und reiße die Schranktüren auf – leer!
Bis auf meine eigenen Klamotten, ist alles ausgeräumt. Im Badezimmer findet
sich auch nichts, was die Gegenwart meiner Familie hätte bezeugen können. Sie
sind weg. Sogar die abgenutzten Zahnputzbecher hat sie mitgenommen. Ja, sie
sind definitiv weg. Sie sind alle weg: Gaby, Danny und Vroni. Mein ganzes Leben
ist weg.
Dann
stürze ich zurück ins Schlafzimmer und wälze mich, ohne zu überblicken, dass
sich unsere Hochzeitsfotografien aus denen mit imitiertem Gold eingefassten
Bilderrahmen ebenfalls in Luft aufgelöst haben, auf das Ehebett. Selbst Lenin,
den sie einmal in fiebriger Widerspenstigkeit über mein lebensgroßes
Beatles-Poster geklebt hatte, hatte sie ab gespachtelt. Das Poster hängt noch
an der Wand, nur Johns Gesicht ist bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt. Na ja,
denke ich, Lennon war ja sowieso tot.
Verzweifelt
rieche ich an ihrem Kopfkissen, streichle an ihrem glatt gezogenem Laken,
vergrabe mich unter ihrer Bettdecke. Vronis Geruch, Vronis Ausstrahlung, Vronis
Körper – all das Imaginäre ist noch so frisch; das Unvorstellbare ist
geschehen. Tränen strömen aus mir, durchnässen die bunten Stoffbezüge und
verwässern den süßen Duft ihrer ungewöhnlichen Aura. Verstehst du mich, Erwin?
Mit
einer unbeholfenen Handbewegung versuche ich mir das versalzene Wasser aus
meinem überschwemmten Gesicht zu wischen, doch es hilft nichts, ich heule
ungehemmt weiter. Ich will es einfach nicht begreifen: Sie sind von mir
gegangen. Ja, sie haben mich im Stich gelassen, alle. Mein Leben ist nichts
mehr wert, Erwin . . . Erwin, ich weiß überhaupt nicht, ob du dir das alles
vorstellen kannst . . . Warum sagst du denn nichts?
Den
unüberhörbaren Knall, mit dem die Schlafzimmertür ins Schloss fällt, nehme ich
unter dem Berg aus Kissen und Decken und quälenden Gedanken nur gedämpft wahr.
Irgendjemand musste die unverschlossene Wohnungstür geöffnet und dadurch einen
enormen Luftzug zwischen dem halb angelehnten Küchenfenster und der
Schlafzimmertür erzeugt haben. Erst als ich spüre, dass sich etwas Bewegendes
neben mir befindet, krieche ich aus meiner Bettenburg hervor. Entgeistert
starren meine verquollenen Augen in die Augen meiner Mutter. Ich bemerke, dass
sie in ihrer Aufgeregtheit vergessen hatte ihr Namensschild aus gestanztem
Aluminiumblech, das noch an ihrer violetten Seidenbluse hängt, abzunehmen. Sie
musste wohl abrupt ihre Arbeit unterbrochen haben, um auf dem schnellsten Weg
vom Alexanderplatz unangemeldet in mein Schlafzimmer eindringen zu können. Sie
steht da und schüttelt den Kopf. Sie schüttelt und schüttelt ihren Kopf.
Zitternd hält sie mir ein Stück Papier entgegen, und da ich wahrscheinlich
immer noch mit irrem Blick und herabhängenden Mundwinkeln zu ihr aufsehe,
beginnt sie stockend zu reden: ,Freddy?! Vroni hat mir ein Telegramm geschickt!
Sie hat mir ein Telegramm
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