Das Salz der Mörder
wenn alles in Ordnung war, bewegten
sich die versteinerten Mienen der Offiziere nicht. Erneut ergriff mich dieses
undefinierbare Gefühl vor der allgewaltigen Staatsmacht, die ich kurz zuvor
schon vergessen hatte. Ich wischte an unserer beschlagenen Fensterscheibe und
konnte nahezu den gesamten Bahnhof überblicken. Man zerrte einige Reisende aus
den Zug. Sie mussten sich auf dem Bahnsteig in Reih und Glied aufstellen. Ihre
kümmerlichen Habseligkeiten wurden von einem Grenzsoldaten eingesammelt. Mit
gesenkten Köpfen standen sie im eisigen Schneetreiben. In mir stieg Wut hoch.
Die Grenzen wurden doch am 9. November geöffnet. War dieser Staat noch immer
nicht am Ende? Spielten die nach wie vor krampfhaft mit ihrer verbrecherischen
Allmacht von einst? Nach mehr als zwei Stunden Aufenthalt wechselte das Signal
binnen einer Sekunde von Rot auf Grün, und ich hörte eine schrille
Trillerpfeife in der Ferne. Der Zug setzte sich in Bewegung. Überraschend wurde
mir bewusst, dass hier niemand zugestiegen war. Möglicherweise schien diese
Grenzgegend längst von allem Irdischen ausgestorben zu sein. Unterdessen
verschwanden hinter uns zirka hundert Männer, Frauen und Kinder im frühen
Dunkel des winterlichen Nachmittags, bewacht von ihren heldenhaften Landsleuten
in den abgewirtschafteten DDR-Uniformen. Im Dampf unserer westwärts strebenden
Lokomotive blieben die vermeintlichen „Staatsfeinde“ zurück. Was mochten sie
nur getan haben?
Ich
hatte keine Zeit, um von neuem in mein zukunftsträchtiges Später versinken zu
können, das mir jetzt nach dem Grenzübertritt nicht mehr so zukünftig erschien.
Ich bekam Herzklopfen. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich mich im
westlichen Deutschland auf. Mein Herz schlug schneller. Und wieder Halt -
Bahnhof Ludwigsstadt. Der erste Halt im Westen – Lokwechsel. Voller Erstaunen
starrte ich aus dem Fenster. Alles war hell erleuchtet. Hübsche Kioske und
riesige Werbeplakate strahlten mir entgegen. Hier war es so ganz und gar anders
als bei uns. Mein Leben lang wirkte nur DDR-Grau auf mich ein. Wahrscheinlich
verließen deshalb einige Mitreisende hier bereits unseren Zug. Aus den
Bahnhofslautsprechern dröhnte eine sich ständig wiederholende sonore Stimme:
„Wir begrüßen unsere Brüder und Schwestern aus der Ostzone. Übersiedler bitte
beim Roten Kreuz in der Bahnhofshalle melden. Heißer Kaffee und Kakao, Bananen
und Apfelsinen sind auf Bahnsteig 1 frei erhältlich.“
Um
meinen Sitzplatz nicht zu verlieren und den Zug vor meiner Nase davonfahren zu
sehen, verzichtete ich großzügig auf meinen ersten westlichen Imbiss. Nach
zwanzig Minuten Aufenthalt pfiff die neue Lokomotive zur Abfahrt. Mit stärkerer
Zugkraft und beschleunigt von gewaltigeren Dieselmotoren ließen wir die ersten
Ausreisewilligen und die werbekräftige Lautsprecherstimme zurück. Wir preschten
über ebenere Schienenstränge, durch hellere Städte, über gigantischere Brücken,
durch verschneitere Wälder. Die Landschaft wurde welliger, hügliger,
bayrischer. Bunte Leuchtreklame raste an uns vorbei und pries Münchner Bier an.
In der dunklen Ferne vermutete ich bereits die Alpen, die Vroni so bildhaft in
ihrem Brief beschrieben hatte.
26. Aktenzeichen XY ungelöst
„Der
Oberinspektor hat sein Büro in Zimmer 212 eingerichtet“, erwiderte die
freundliche junge Frau an der Rezeption. „Er traf eben erst ein. Möchten Sie
mit ihm sprechen, Frau Wegner?“
„Ja.
Richten Sie ihm bitte aus, dass wir in der Hotelhalle auf ihn warten. Und seien
Sie bitte so nett, bestellen Sie eine Coca Cola für meinen Sohn und eine Tasse
Kaffee für mich. Danke.“
Nach
zehn Minuten . . .
„Wir
haben ihn, Frau Wegner, ich denke, jetzt haben wir ihn. Guten Abend erst
einmal“, begann Oberinspektor Petersen überaus erregt und setzte sich so
ungeschickt in den schwarzen Clubsessel, dass er gegen den niedrigen Tisch
stieß, dabei Dannys Colaflasche umfiel und um ein Haar der ganze Kaffee aus
Veronikas Tasse geschwappt wäre.
„Oh,
ich bitte um Verzeihung. Ich bestelle Ihnen sofort etwas Neues. Haben Sie die
letzte Sendung von ‚Aktenzeichen XY‘ gesehen? Wir erhielten bislang mehr als
zwanzig Hinweise aus dem Wiener Aufnahmestudio, die sich alle um den Raum
Innsbruck und Salzburg konzentrieren. Es wurden einige Festnahmen vorgenommen
und silberfarbene Opel Kadett 1,6 i beschlagnahmt. Wie sich gegenwärtig zeigt,
ist ihr Mann höchstwahrscheinlich nicht von München auf die A 9 in Richtung
Nürnberg, sondern
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