Das Salz der Mörder
nicht fröhlicher werden. Ein
Abschied bleibt stets ein Abschied, dachte ich. Für uns alle auf den
Bahnsteigen und in den Zügen, die plan- oder unplanmäßig ein- und ausfuhren,
gab es nur drei Himmelsrichtungen, aber keine davon hieß Osten.
Sonnabendmorgen
fünf Uhr dreiundfünfzig. Erst jetzt wurde unter Getöse unser Zug
bereitgestellt. Normalerweise sollte ich längst auf freier Strecke in Richtung
Süden rattern. „Aha“, bemerkte ich stirnrunzelnd und mit erhobener Stimme,
„unsere gute Deutsche Reichsbahn hat die neue Zeit verschlafen, denn sie dampft
immer noch nach dem alten vertrauten System vor sich hin.“
Beim
Einsteigen drehte ich mich noch einmal um. „Mutti, ich rufe dich an“, schrie
ich aus dem vorwärts drängelnden Durcheinander. Ich wurde in eine Waggontür
gequetscht. Mit Müh und Not erreichte ich stoßend und fluchend ein Abteil und
ergatterte sogar einen Fensterplatz. Mein temporärer Lebensraum für die
nächsten Stunden war für sechs Personen zugelassen. Dessen ungeachtet zählte
ich zwölf, die lärmenden Kinder auf den Schößen ihrer Eltern nicht
mitgerechnet. Wann die oberen Gepäckablagen zusammenbrechen würden, war nicht
voraussehbar. Verstört wagte ich einen kurzen Blick durch die offene Abteiltür.
Wie gepresste Ölsardinen standen die Leute, die man jetzt Mitreisende nannte,
in den zu schmalen Gängen und versperrten mit Sack und Pack all das, was es zu
versperren gab. Neidisch sahen sie auf unsere überbesetzten Sitzplätze.
Wohlweislich hatte ich mir den Kauf einer Platzkarte erspart.
Es
ruckte. Jemand konnte gerade noch einen herabstürzenden Koffer auffangen, um
Schlimmeres zu verhindern. Eine trübe Neonröhre flackerte über uns, ohne zu
wissen für wen. Mir war das auch egal. Es war mir eigentlich alles egal, denn
ich verließ Berlin, meine flache Heimat zwischen Spree und Havel, in der ich
aufgewachsen bin und seitdem ich denken kann, gelebt habe. Jetzt fuhr ich zum
letzten Mal an den Bahnstationen meiner Jugend vorbei, auf und in denen ich
Mädels begrüßt, verabschiedet, geküsst und betrogen habe, wie zum Beispiel
1976: S-Bahnstation Warschauer Straße - Gundi und Steffi, die verrückten
Zwillingsschwestern, die wohnten hier. Wir machten es niemals zu zweit, immer
zu dritt, und keiner war eifersüchtig. Ich hätte sie sowieso nicht
auseinanderhalten können. Ostkreuz 1977 - Sabrina trat mir am Ostermontag auf
Bahnsteig 2 - mindestens dreihundert Leute waren meine Zeugen - zwischen die
Beine (sprich: in die Eier), weil ich angeblich mit einer gewissen Marion
Geschlechtsverkehr gehabt hätte oder gehabt haben soll. So oder so ähnlich
drückte sie sich wohl aus. Ein Dreivierteljahr später, dieselbe S-Bahnstation -
von Ostkreuz über Treptower Park, Plänterwald, Baumschulenweg bis Schöneweide
hatte mich die eben erwähnte Marion verfolgt. Marion war hübsch, sehr hübsch.
In Schöneweide meinte ich, ich hätte die Wahnsinnige abgehängt. Fataler Irrtum:
Ich stieg nicht aus. In Adlershof zerrte mich die Transportpolizei aus den
Abteil und wollte mich wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen an die
Deutsche Volkspolizei übergeben. Sie ließen mich gar nicht zu Worte kommen,
sondern schlossen mich vorübergehend für mehrere Stunden in einem Abstellraum
des Fernsehens der DDR ein. Wieder einmal sorgten meine unschuldigen Augen für
den erwünschten Effekt: Nach knapp drei Stunden wurde die Tür zu meiner
provisorischen Zelle aufgestoßen und zwei Volkspolizisten standen vor mir.
Hinter ihnen tänzelte die schöne Marion nervös hin und her. Für einen flüchtigen
Augenblick sah ich ihr tief in die Augen, dann flüsterte sie etwas
Unverständliches zu den beiden Grünen. Ich stand da wie ein Idiot, zumal ich
nicht wusste, was überhaupt vor sich ging. Schließlich widerrief Marion ihre
falschen Anschuldigungen in Gegenwart der Uniformierten, die man extra
meinetwegen mit ihrem Streifenwagen zum Fernsehfunk beordert hatte. Sie
entschuldigte sich in aller Form bei den Bullen und mir. Es habe sich um eine
Verwechslung gehandelt, jammerte sie unter Tränen. Als jeder sein Protokoll
unterschrieben hatte, die langwierigen Entlassungsformalitäten zu guter Letzt
überstanden waren und Marion und ich gemeinsam am Adlergestell auf ein Taxi
warteten, um zum Bumsen in den Schrebergarten ihrer Eltern zu fahren, schlug
von irgendwoher eine Kirchturmuhr Mitternacht. Plötzlich umarmte sie mich und
begann unverhohlen in mein Gesicht zu lachen. „Siehst du, du Affe, jetzt
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