Das Salz der Mörder
Also schickte sie mich zu den „Jungen Pionieren“
mit den weißen Hemden und den blauen Halstüchern. Um weiterhin nicht aus der
DDR-Reihe zu tanzen, hatte ich einige Jahre später das blaue Hemd mit dem
gelben Abzeichen der „Freien Deutschen Jugend“ zu tragen. Ich ließ alles
geschehen, ohne Widerspruch. Bevor ich jedoch in die „Reihe der Erwachsenen“
aufgenommen werden sollte, widersetzte ich mich zum allerersten Mal.
„Ich
weiß, weshalb Vati starb“, protestierte ich, „und du weißt es besser als ich,
und immer noch willst du, dass ich das stillschweigend hinnehme und nichts
dagegen tue. Nur dir zuliebe bin ich in diese Kommunistenvereine eingetreten.
Habe an ihren Versammlungen und Kindernachmittagen teilgenommen, um bloß nicht
aufzufallen in der Schule. Verstehst du mich? Nur deinetwegen spielte ich diese
Spielchen mit. Ich habe Vati geliebt und du rätst mir Tag für Tag ihn zu
verleugnen?“
Ich
war dreizehn, als ich das zu meiner Mutter sagte.
„Freddy,
ich habe Vati genauso geliebt. Bitte sei still und sprich nicht in dieser Art
und Weise zu mir“, entgegnete sie erschrocken. „Du weißt ja gar nicht, was du
da redest. Lass die Jugendweihe über dich ergehen und wir haben Ruhe und
Frieden.“
Ich
wollte aber diese Ruhe und solchen Frieden nicht. Es explodierte aus mir
heraus: „Ich weiß ja nicht einmal, wo sich das Grab von Vati befindet, um dort
um ihn weinen zu können. Oder hat man dir erzählt, wo sie ihn verscharrt
haben?“
„Freddy,
so hör doch auf damit! Man kann gegen die überhaupt nichts machen, mein Junge.“
Ich
erzählte ihr von ein paar Freunden, die sich taufen lassen wollten; in sechs
Wochen sollten sie konfirmiert werden und wären dann Protestanten. Erstmals
hörte ich das Wort „Gott“ aus dem Munde meiner Mutter: „Um Gottes Willen,
willst du dir deine Zukunft zerstören?“
„Was
soll das für eine Zukunft sein, wenn die Mörder meines Vaters auch mit mir
machen können, was sie wollen?“
„Freddy,
versündige dich nicht!“
„Aber
Mutti, wie kann ich mich denn gegen Mörder versündigen? Ich kann mich nur gegen
die Kirche versündigen, weil ich nicht mal weiß, was Taufe und Konfirmation in
Wirklichkeit bedeutet.“
Ich
betrachtete das damals als meine erste Revolution. Das war das einzige, was ich
gegen diese „Diktatur des Proletariats“ tun konnte. Meine Mutter siegte letzten
Endes doch: Ich musste ganz selbstverständlich die Jugendweihe über mich
ergehen lassen und wurde dadurch in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen; ich
wurde nicht zum Revoluzzer; ich wurde nicht zum Protestanten und ich wurde
nicht mit Dir, mein Gott, konfrontiert.
Mit
meiner Oma konnte ich solche hochbrisanten Diskussionen nicht führen. Sie war
ja keine Reichsdeutsche, sondern Österreicherin und hatte mit dem DDR-Regime
erst recht nichts im Sinn. Omi kannte nur einen Gott: Seine Majestät Kaiser
Franz Joseph I. von Österreich und König von Ungarn.
Ich
weiß nicht, weswegen mir das alles durch den Kopf geht? Oh Herr, hilf mir an
Dich zu glauben. Allein Du kannst mir die Kraft geben, die ich brauche, um
meine Tochter und mich hier lebendig herauszubringen. Es gibt keine Gewalt
außer die Gewalt Gottes. Wenn Du also existierst, gib mir bitte ein Zeichen.
Vielleicht verstehe ich Deine Zeichen nicht, denn Du lässt unsinnige Kriege zu,
Du lässt zu, dass unschuldige Kinder verhungern, Du lässt Mord und Totschlag,
Vergewaltigung und Diskriminierung zu, und Du lässt diese Hansen zu, diese
Geistesgestörte. Lieber Gott, ich verstehe das alles nicht. Wie kann ich zu Dir
gelangen, wenn Du mir auf meine Fragen keine Antworten gibst? Soll ich Dich
hassen, obwohl ich Dich gar nicht kenne? Willst Du das? Du hast uns doch nach
Deinem Abbild geformt. Du hast uns erzählt: Liebet und vermehret euch. Du hast
uns die Erde und das Weltall gegeben: Macht euch die Natur zum Untertan. Dann
hast Du Dich von uns abgewandt, sahst nur noch zu und ließt uns in unserer
teuflischen Entwicklung allein zurück. Selbst Dein letzter Versuch, uns durch
das Opfern Deines Sohnes Jesus Christus von dem Übel und unseren Sünden zu
erlösen, half nicht Deine selbsterschaffenen Erdenkinder auf den rechten Weg zu
bringen. Genau vor zweitausend Jahren warst Du unserer überdrüssig und hast uns
für immer verlassen. Und genau seit diesem Zeitpunkt schlagen wir uns
regelmäßig die Schädel ein. Du hast uns zivilisiert, Du hältst uns aber nicht
davon ab unseren Nachbarn regelmäßig zu berauben
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