Das Schattenbuch
Sammler…«
»Ein Buch?«, unterbrach Arved sie. »Was
für ein Buch?«
Sie zögerte eine Sekunde zu lang.
»Unwichtig.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Es ging nicht um unser Schattenbuch…«
»Vielleicht um ein anderes Buch des Autors?«
»Warum sind Sie so besessen von diesem Autor und seinen
Büchern?«, fragte Lioba mit beinahe verzweifelter
Stimme und sah Arved fest an.
»Das können Sie gar nicht nachfühlen, weil Sie
das Buch nicht gelesen haben und es nicht einmal lesen
wollen!« Er war sehr enttäuscht und fühlte sich
verraten. Zuerst war es eine gemeinsame Suche gewesen, ein
gemeinsames Projekt, doch jetzt wollte Lioba nicht mehr
mitspielen. Ihre Gemeinsamkeit zerfiel, zerbröckelte ihm
unter seinen Händen.
»Das ist auch besser so«, sagte Lioba leise und
drückte den erst halb gerauchten Zigarillo im Aschenbecher
aus.
Arveds Wut und Enttäuschung steigerten sich so sehr, dass
er fast reflexartig ausstieß: »Ihr Mann hatte wohl
Recht.«
Lioba kniff die Augen zusammen. »Womit?«
»Was er über Sie gesagt hat, war nicht
schmeichelhaft.«
Lioba lachte schrill auf. Die Dame mit dem kleinen Kopf und
dem kleinen Hund rief piepsend zu der Kellnerin, sie wolle
bezahlen und gehen. »Das kann ich mir vorstellen.
Glauben Sie ihm kein Wort. Er war immer schon ein
Aufschneider.«
Wie hatte er sich bloß zu diesen Worten hinreißen
lassen können! Nun taten sie Arved bereits Leid.
»Er hat Ihnen gesagt, dass ich ihn betrogen habe. Mit
allem, was eine Hose trägt. Bestimmt hat er auch über
Jochen Martin hergezogen.«
Arved nickte langsam.
»Dieses paranoide Schwein! Manfred meine ich damit.
Jochen liebt seine Frau so sehr, dass er niemals eine andere
ansehen würde. Wenn es einen treuen Menschen gibt, dann ihn.
Das ist einer der Gründe, warum ich ihn so sehr
schätze. Er ist der beste Freund, den ich habe. Hat Manfred
Ihnen übrigens auch gesagt, dass er mich betrogen
hat?«
Arved spürte, dass er rot wurde. Er schüttelte den
Kopf.
»Mit seiner Sekretärin. Das lächerlichste
aller Klischees! Mich wollte er zu Hause einsperren; nur
seinetwegen habe ich den Lehrerberuf an den Nagel gehängt.
Na gut, es gab da Probleme, die meinen Ausstieg aus dem
Beamtendasein beschleunigt haben, aber eigentlich wollte ich kein
Heimchen am Herde sein. Und so habe ich mir eine Stelle gesucht,
als ich es in unserem trauten Haus nicht mehr ausgehalten habe.
Was ist daran schlimm?«
Arved setzte vor Verlegenheit die Tasse an die Lippen und
ließ sich die letzten Tropfen über die Zunge
rinnen.
»Wollen Sie sie auspressen? Oder lieber noch eine
bestellen? Ich lade Sie ein. Marlene, noch einen Milchkaffee
für den Herrn!«
Gekicher vom Tisch der Jugendlichen.
Lioba fuhr fort: »Manfred kommt aus einem sehr
problematischen Elternhaus. Die Mutter war Trinkerin und ist an
Leberzirrhose gestorben, und der Vater wurde daraufhin depressiv.
Er ist ebenfalls schon lange tot. Manfred hatte einen Bruder, der
irgendwie auf die schiefe Bahn geriet. Wie das so geht: Erst sind
es Autoaufbrüche, dann Wohnungseinbrüche, dann
zwielichtige Bekanntschaften, dann härtere Sachen. Er ist in
Ausübung seines Berufes erschossen worden.«
Arved schluckte. »Das ist ja schrecklich.« Er
flehte die frische Tasse Kaffee herbei. Als sie kam, hielt er sie
fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. »Manfred
scheint jetzt ebenfalls unten angekommen zu sein –
wofür er Ihnen die Schuld gibt«, sagte er leise.
Lioba machte eine wegwerfende Handbewegung. »Klar, er
hat Ihnen bestimmt gesagt, dass er mit dem Trinken angefangen
hat, nachdem er rausgekriegt hat, dass ich ihn
betrüge.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.
»Allerdings.«
»Tatsache ist, dass er schon vorher Alkoholiker war. Er
wollte anders als seine Mutter, als sein Vater und sein Bruder
sein. Wenigstens war er damals nicht kriminell, aber er war
depressiv und hat getrunken. Er schrie zu Hause rum, warf die
Möbel durcheinander, und wenn ich Widerworte gab, ging er
auf mich los. Damals konnte ich ihm nicht helfen. Und
professionelle Hilfe wollte er nicht. Jetzt scheint er
endgültig abgerutscht zu sein und alle schlechten
Familieneigenschaften, die er bei sich immer unterdrückt
hatte, auszuleben.«
Arved überkam eine Welle des Mitleids mit Lioba. All
seine Zweifel an ihr schwanden dahin. Aber, flüsterte es in
ihm, was ist mit ihrer früheren Vergangenheit? Mit ihrem
wilden Leben?
Lioba redete
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