Das Schattenkind
zu tun."
Jonathan Thorburn kehrte mit seinem Neffen zurück. Stolz präse n tierte der kleine Junge eine hübsche Vase, die sie in einem Schrank im Korridor gefunden hatten. "Schokolade haben wir auch mitgebracht", sagte er, zog einige Schokoladenriegel aus seinen Hosentaschen und legte sie auf den Nachttisch. "Für j e den einen."
"Du sorgst wirklich ausgezeichnet für uns, David", meinte Nora Eden mit einem erzwu n genen Lächeln.
David antwortete ihr nicht. Zaghaft berührte er ihre mit dem Be t tuch bedeckten Beine. "Können Sie sie wirklich nicht bewegen, Miß Eden?" fragte er mitleidig. "Tut es weh?"
"Nein, Schmerzen habe ich nicht", erwiderte die ehemalige Go u vernante, "aber es ist sehr schwer, plötzlich immer auf fremde Hilfe angewiesen zu sein." Ihr Gesicht wurde dunkel vor Kummer. "Aber was soll's? Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als mich daran zu gewö h nen."
Nach dem Besuch bei Miß Eden fuhren sie in die Stadt, um erst einmal ein verspätetes Mittagessen einzunehmen. Selig saß David zwischen ihnen an einem Tisch bei MacDonalds und biß in einen Cheesburger. Der kleine Lord erschien Laura wie ein Kind, das ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk bekommen hatte.
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, sich Exeter anz u sehen. David war vor allen Dingen an den Ruinen des Rougemont Castle interessiert, die malerisch in einem Park lagen. Später zeigte ihr Jonathan Thorburn in der Kathedrale St. Peter ein altes normannisches Grabmal, das für einen seiner Vorfahren errichtet worden war. Er war stolz darauf, einer der ältesten Familien Englands anzugehören.
Es dunkelte bereits, als sie nach Thorburn Hall zurückkehrten. D a vid war so müde, daß er kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Jonathan nahm seinen Neffen einfach auf den Arm und trug ihn die Treppe zu den Kinderzimmern hinauf.
Er würde einen phantastischen Vater abgeben, dachte Laura, die ihnen folgte. Dann fiel ihr jedoch wieder ein, was Nora Eden zu ihr gesagt hatte. Jemand trachtete David nach dem Leben. Auch wenn sie Jonathan Thorburn mochte, sie durfte ihm nicht vertrauen. Sie mußte David beschützen. Alles andere war dagegen bede u tungslos.
11 .
Tief in Gedanken folgte Laura dem schmalen Fußpfad, der durch den Wald zum Friedhof der Thorburns führte. Es war die Stunde, in der Lady Ireen sich Davids widmete. Wie ein Schaf, das zur Schlach t bank geführt wurde, hatte sich der kleine Junge zu seiner Mutter beg e ben.
"Warum muß ich immer zu ihr gehen", hatte er gemault. "Mom will gar nicht wirklich, daß ich bei ihr bin." Er hatte zu Laura aufgeblickt und gefragt: "Können wir ihr nicht sagen, daß ich krank bin?"
Wie gerne hätte ihn die junge Frau vor dem Zusammensein mit se i ner angeblichen Mutter bewahrt, doch es gab dafür keinen Grund. Außerdem hatte die Herrin von Thorburn Hall an diesem Nachmittag Gäste. Laura wußte von Jonathan, daß seine Schwägerin vor Fremden gerne demonstrierte, was für eine gute Mutter sie war.
Hinter den Bäumen tauchte die mit Efeu bewachsene Friedhof s mauer auf. Ihr schmiedeeisernes Tor hing etwas schief in den Angeln und quietschte, als Laura es öffnete. Es kam ihr vor, als wollte es d a gegen protestieren, daß sie die Ruhe der Toten störte.
Langsam folgte die junge Frau einem sorgsam gepflegten Weg, der an alten, zum Teil verwitterten und geborstenen Grabsteinen vorbei führte. Hin und wieder blieb sie stehen, um die Namen der Toten zu entziffern, doch die Steine waren zum Teil bis zur Unkenntlichkeit von Wind und Regen abgeschliffen worden.
An der Grenze vom alten zum neuen Teil des Friedhofs stand eine graue Kapelle. Neugierig öffnete Laura das Portal. Der Boden der Kapelle bestand aus grobbehauenen Platten. Es gab keine Bänke, keine Skulpturen und oder Bilder. Hinter dem Altar hing ein einfaches Kreuz. Rechts und links von ihm standen steinerne Leuchter, in denen bis zur Hälfte abgebrannte Kerzen steckten.
Die kahle, trostlose Kapelle stimmte die junge Frau traurig. Rasch schloß sie wieder das Portal und ging zu Samuels Grab, das nur wenige Meter entfernt lag. Noch gab es keinen Grabstein für den verstorbenen Lord. Nur ein mit Kränzen und Blumen bedeckter Hügel zeigte an, daß wieder ein Thorburn gestorben war.
Laura legte die Blumen, die sie mitgebracht hatte, auf den Hügel. Sie dachte an die wundervollen Stunden, die sie mit Samuel in Rom verbracht hatte. Warum kann ich ihn nicht hassen, dachte sie. Er hat mich betrogen und belogen, er hatte
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