Das Schattenkind
Jonathan. "Könnte es sich nicht nur um Fehlzündungen eines Wagens gehandelt haben? Immerhin führt auf der anderen Seite des Waldes eine Straße entlang.
"Nein, es waren Schüsse, Mister Thorburn", beharrte Laura. "A u ßerdem sollten Sie nicht die Schritte vergessen, die wir hörten. Wer immer auf uns geschossen hat, es war Absicht."
"Burton gegenüber meinten Sie, man könnte Sie auch mit Wild verwechselt haben."
"Was wäre wohl passiert, wenn ich dem Butler die Wahrheit gesagt hätte?" Laura stand auf. "Manchmal frage ich mich sogar, ob Ihr Br u der wirklich einem Unfall zum Opfer gefallen ist, oder ermordet wu r de. Er..."
"Wie kommen Sie auf diese Idee?" Jonathans Stimme klang plöt z lich heiser.
"Ich bin ein Mensch, der zwei und zwei zusammenzählen kann", erwiderte sie, während sie sich gleichzeitig sagte, daß sie viel zu u n vorsichtig war. Wenn Jonathan Thorburn hinter den Anschlägen steckte, hing ihr Leben womöglich jetzt an einem seidenen Faden. Aber steckte er dahinter, oder wollte er nur nicht begreifen, wie ernst die Lage war?
Der Verwalter sah sie eindringlich an. "An Ihrer Stelle würde ich solche Gedanken nicht laut werden lassen, Miß Newman", meinte er. "So etwas könnte gefährlich werden. Ich bin überzeugt, daß..." Er u n terbrach sich. "Sie sollten jetzt wieder zu David gehen. Bitte, erwähnen Sie den anderen gegenüber kein Wort von diesen Schüssen. Sagen Sie auch meinem Neffen, daß er nicht da r über sprechen soll."
"Und warum nicht?"
"Ich habe meine Gründe." Jonathan brachte die junge Frau zur Tür. "Ich halte Sie nicht für eine Phantastin, doch es kann sich wirklich um einen Wilderer gehandelt haben."
"Am hellichten Tag?" Um Lauras Lippen zuckte ein spöttisches Lächeln.
"Bitte, Miß Newman. Ich werde mich darum kümmern. Verlassen Sie sich darauf."
"Ich verlassen mich darauf, Mister Thorburn", sagte sie und verließ das Arbeitszimmer. Sie wandte sich nicht um, als sie zur Treppe ging, aber sie spürte, wie ihr Davids Onkel nac h blickte.
16.
Eine Woche später beobachteten Laura und David vom Fenster des Schulzimmers aus, wie Niklas Thorburn in sein Elternhaus zurüc k kehrte. Jonathan hatte mit David seinen jüngeren Bruder vom Flugh a fen abholen wollen, doch Niklas hatte Anfang der Woche angerufen und ihm gesagt, daß er nach seiner Rückkehr noch zwei Tage in Lo n don bleiben würde. Er hätte einiges zu erledigen, was keinen Aufschub duldete und würde sich dann einen W a gen mieten.
"Gehen wir jetzt hinunter, Miß Laura?" fragte David aufgeregt. Er wippte mit den Fußspitzen. "Bitte." Beinahe flehend blickte er zu ihr auf. "Manuel ist schon ganz zappelig."
"Das geht nicht, David. Deine Mutter hat mich extra heute morgen angewiesen, erst mit dir nach unten zu kommen, wenn man uns ruft."
David seufzte laut auf. "Sie will Onkel Niklas nur für sich haben", bemerkte er.
Es war das zweite Mal, daß David eine derartige Andeutung machte. Ob es zwischen Lady Ireen und Niklas Thorburn eine Verbi n dung gab, die über ihre verwandtschaftliche Beziehung hinausging? Andererseits hatten Lady Ireen und ihr Schwager kaum Gelegenheit, sich zu sehen. Immerhin verbrachte der junge Geologe den größten Teil des Jahres im Au s land.
Davids Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Erst kurz nach dem Lunch meldete ihnen Nelli, daß sie in den Salon hinunter kommen sollten. Rasch überprüfte Laura, Davids und ihr eigenes Aussehen, dann nahm sie den Kleinen bei der Hand und ging mit ihm zur Treppe.
David löste sich aus ihrer Hand und polterte die Stufen hinunter. Auch wenn er seinen Onkel Jonathan lieber mochte als Niklas, er konnte es kaum noch erwarten, von Afrika und den wilden Tieren, die es dort gab, zu hören. Während der wenigen Tage, die Niklas zur B e erdigung seines Bruders in England gewesen war, hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, etwas Zeit miteinander zu verbri n gen.
"David!" mahnte Laura, als der kleine Junge in den Salon stürzen wollte.
Er blieb stehen. "Warum müssen Kinder immer warten?" fragte er, als sie an die Salontür klopfte.
"Ja, bitte!" rief Lady Ireen von drinnen.
Laura öffnete die Tür. Sie war bisher nur selten im Salon gewesen und jedesmal von neuem beeindruckt. Durch die hohen Fenster fiel das Sonnenlicht. Es zauberte bunte Lichter auf die polierten, sehr alten Möbel, Vasen und Gemälde.
Die Thorburns saßen in der Nähe der Terrassentür und tranken aus zierlichen Tassen Mokka. Wäre Niklas Haut durch die Sonnenbräune nicht
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