Das Schattenkind
ist", meinte der Kleine mißmutig. "Du trinkst doch auch nicht gerne mit meiner Mom Tee, Onkel Jonathan."
"Ich glaube, ich gehe jetzt lieber", sagte der Verwalter. "Ich erwarte Sie und David in einer halben Stunde bei den Garagen, Miß Newman." Eilig verließ er das Schu l zimmer.
Laura ahnte, warum sich Jonathan so schnell zurückzog. Ihr selbst war es auch schwergefallen, nicht über Davids Ausspruch zu lachen. "Komm, sorgen wir erst einmal dafür, daß du ordentlich angezogen bist", forderte sie ihn auf. "Dein Onkel Niklas kommt bald nach Tho r burn Hall. Sicher wird er dir viel von Afrika erzählen können."
"Er mag meine Mom", antwortete David.
"Und deine Mutter?" fragte Laura. "Mag sie ihn auch?"
"Ja." David nickte. "Onkel Niklas ist lustig, aber Onkel Jonathan habe ich viel lieber." Er löste sich von ihrer Hand und rannte zum Fe n ster, um das Plüschäffchen zu holen, das dort saß.
Laura erinnerte sich des angefangenen Briefes. Sie nahm ihn unter dem Buch hervor, faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihre Rockt a sche. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, daß jemand das Schulzimmer durchsuchen würde, sie wollte nichts riskieren.
15.
Auf Thorburn Hall richtete man sich auf Niklas' Rückkehr ein. Se i ne Suite wurde gründlich geputzt und gelüftet, die Armaturen im Bad erneuert und in seinem Studierzimmer, im Erdgeschoß des Hauses, wurden neue Lampen angebracht.
Die Heimkehr des verlorenen Sohnes, dachte Laura, als sie mit D a vid auf den nahen Wald zuging. Jeder schien sich über Niklas' Rüc k kehr zu freuen. Wann immer sie die Hausmädchen zusammenstehen sah, sprachen sie über ihn. Selbst Nelli bekam glänzende Augen, wenn sie Jonathans jüngeren Bruder erwäh n te.
David löste sich von ihrer Hand. "Ich lauf' mit Manuel voraus!" rief er und rannte davon.
"Paß auf, daß du nicht hinfällst!"
David antwortete ihr nicht.
Laura schritt etwas schneller aus. Sie kannte David inzwischen gut genug, um zu wissen, daß er sich bestimmt vor ihr im Wald verstecken wollte. Auch wenn sie dererlei Unfug verstehen konnte, seit dem Zw i schenfall auf dem Wasser hatte sie Angst, ihn auch nur für fünf Min u ten unbeaufsichtigt zu lassen. Wenn man ihr schon nicht glaubte, daß versucht worden war, den Jungen zu ermorden, so mußte sie weni g stens dafür sorgen, daß ihm nichts pa s sieren konnte.
David hatte den Wald erreicht. Er blieb einen Augenblick stehen, dann bog er in einen schmalen Pfad ein, der zu einem kleinen See führte.
Laura begann zu rennen. Sie holte ihren Sohn kurz vor dem See ein. David zeigte zu einem Hochsitz. "Darf ich hinaufklettern?" fragte er.
"Meinetwegen."
Flink stieg der kleine Junge die schmale Leiter hinauf. "Hier oben sitzen die Jäger, wenn sie auf die Tiere schießen!" rief er nach unten. "Ich mag das nicht. Tiere wollen doch auch leben."
"Geht dein Onkel Jonathan auch auf die Jagd?" fragte Laura, als er zu ihr zurückkehrte.
David schüttelte den Kopf. "Nein, aber mein Daddy hat gejagt. Meine Mom geht jeden Herbst mit auf die Fuchsjagd." Er hob ein paar Steinchen auf und warf sie in einem weiten Bogen ins Wasser. "Haben Sie schon einmal einen Fuchs gesehen, Miß Laura? Kleine Füchse sind richtig süß. Es ist gemein, mit den Hunden und Pferden hinter ihnen herzujagen."
"Ja, das finde ich auch", sagte Laura, obwohl Lady Ireen bestimmt nicht mit dieser Antwort einverstanden gewesen wäre. Die junge Frau hielt die Jagd für völlig überholt und unmensc h lich.
"In der Nähe gibt es eine Höhle", verriet David. Er nahm ihre Hand. "Kommen Sie, Manuel und ich zeigen sie Ihnen."
Bereitwillig ließ sich Laura von ihrem Schützling zur Höhle führen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, das keine Einsturzgefahr bestand, war sie sogar einverstanden, ein paar Schritte hineinzugehen.
"Onkel Jonathan sagt, daß vor langer, langer Zeit die Menschen in Höhlen gewohnt hätten." David strich vorsichtig über die rauhen Wä n de. "Das muß doch im Winter kalt gewesen sein."
"Nun, die Menschen hatten Feuer, um sich vor der Kälte zu schü t zen. Außerdem waren sie nicht so empfindlich wie wir es heute sind." Laura fühlte sich plötzlich äußerst unbehaglich. "Komm, wir sollten zurückgehen", meinte sie. Im selben Moment bemerkte sie Manuel. Er stand am Höhleneingang. In seinem Gesicht stand dieselbe Angst wie vor einigen Tagen im Boot.
"Nur noch ein bißchen", bettelte David. "Ich bin so gerne hier."
"Nein, David." Sie ergriff seine Hand. "Beeilen wir
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