Das Schicksal in Person
gehen wir jetzt.«
Miss Marple lächelte ihnen zu und ging in die Hotelhalle.
19
N achdem sie ihr Mittagessen im Speisesaal beendet hatte, trat Miss Marple auf die Terrasse hinaus, um dort ihren Kaffee zu trinken. Sie war gerade bei ihrer zweiten Tasse, als eine große, dünne Gestalt die Stufen heraufkam. Es war Anthea Bradbury-Scott. Etwas atemlos sagte sie:
»Oh, Miss Marple, wir haben gerade gehört, dass Sie nicht abgefahren sind. Wir dachten, Sie würden die Reise noch bis zu Ende mitmachen, und hatten keine Ahnung, dass Sie hier bleiben. Clotilde und Lavinia schicken mich. Ich soll Sie fragen, ob Sie nicht lieber bei uns im Old M a nor House wohnen wollen. Das ist doch sicher angenehmer als im Hotel. Besonders am Wochenende wird es hier immer sehr unruhig durch die vielen Ausflügler. Wir würden uns wirklich freuen, wenn Sie kämen!«
»Das ist ganz reizend von Ihnen«, sagte Miss Marple. »Aber eigentlich waren ja nur zwei Tage vorgesehen. Ich meine – wenn dieses schreckliche Unglück nicht passiert wäre, hätte ich die Reise ja auch fortgesetzt. Aber nun… Ich brauchte etwas Ruhe, ich konnte einfach noch nicht abreisen.«
»Aber es wäre doch sicher viel besser, wenn Sie zu uns kämen. Wir würden es Ihnen so gemütlich wie möglich machen.«
»Ja, bei Ihnen war es sehr schön«, sagte Miss Marple. »Und so gemütlich. Das herrliche Haus mit den vielen schönen Dingen, die Möbel, das Porzellan, die Gläser. Es ist soviel angenehmer, in einem Privathaus zu wohnen als in einem Hotel.«
»Dann müssen Sie unbedingt mitkommen. Unbedingt. Ich kann ja schnell Ihre Sachen packen.«
»Sehr freundlich von Ihnen, aber das kann ich selbst tun.«
»Ich helfe Ihnen.«
»Das wäre sehr nett.«
Sie gingen in Miss Marples Zimmer hinauf, wo Anthea in ihrer fahrigen Art Miss Marples Sachen zusammenpackte. Miss Marple, die ihre Kleidungsstücke immer sehr sorgfältig zusammenlegte, musste sich Mühe geben, sich ihr Missfallen nicht anmerken zu lassen. Schrecklich, dachte sie, sie kann kein einziges Stück ordentlich zusammenlegen.
Anthea klingelte nach einem Hausdiener, der das Gepäck zum Old Manor House brachte. Miss Marple gab ihm ein angemessenes Trinkgeld und begrüßte dann unter umständlichen Dankesbeteuerungen die beiden anderen Schwestern.
Die drei Schwestern, dachte sie. Nun wären wir also wieder da. Etwas atemlos setzte sie sich im Salon in einen Sessel und schloss die Augen. In ihrem Alter war es schließlich kein Wunder, dachte sie, dass sie mit Anthea und dem Hausdiener nicht mehr Schritt halten konnte. Sie benützte die kleine Ruhepause, um die Atmosphäre dieses Hauses auf sich wirken zu lassen. War hier etwas Unheimliches zu spüren? Nein, das nicht, aber Unglück. Ein tiefes Unglück. Und diese Stimmung war fast erschreckend.
Sie öffnete die Augen und sah, dass Mrs Glynne gerade aus der Küche hereingekommen war und ein Tablett mit dem Nachmittagstee brachte. Sie sah nicht anders aus als sonst: gemütlich und gelassen. Vielleicht sogar etwas zu gelassen, überlegte Miss Marple. Aber vielleicht hatte das Leben sie auch gelehrt, sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen, sie niemand zu zeigen?
Auch Clotilde war da. Sie hatte immer noch ihren Klytämnestra-Blick, der Miss Marple schon früher aufgefallen war. Natürlich hatte sie ihren Mann nicht umgebracht, denn sie war ja nie verheiratet gewesen, und es war höchst unwahrscheinlich, dass sie das Mädchen umgebracht hatte, welches sie sehr geliebt haben sollte. Über diese Liebe bestand kein Zweifel, das hatte Miss Marple gemerkt, als sie von Veritys Tod gesprochen und Clotilde zu weinen begonnen hatte.
Aber was war mit Anthea? Sie hatte ja immerhin das Paket zur Post gebracht. Und sie war sie abholen gekommen. Miss Marple war sich über Anthea nicht im Klaren. Sie war zu zerstreut und fahrig für ihr Alter. Ihr Blick war unruhig. Man hatte den Eindruck, dass sie Dinge sah, die andere nicht sahen. Sie hat Angst, dachte sich Miss Marple. Doch wovor? War sie vielleicht geistesgestört? Hatte sie Angst, wieder in eine Anstalt zu müssen, in der sie vielleicht schon einen Teil ihres Lebens verbracht hatte? Befürchtete sie, dass ihre Schwestern ihr die Freiheit wieder nehmen könnten? Oder lebten die Schwestern vielleicht in der Angst, dass Anthea etwas Unpassendes sagen oder tun könnte? Die Atmosphäre in diesem Haus machte sie nachdenklich. Während Miss Marple ihre zweite Tasse Tee trank, fragte sie sich, was Miss Cooke
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