Das Schiff aus Stein
klug. Das hat Coralia auch schon gesagt. Sie hat mal gesagt, er wäre der Einzige, dem sie zutraut, das Versteck zu finden.«
»Psst!«, zischte Anselm. »Sag das nicht laut. Du weißt, dass sie das nicht will.«
»Wer soll uns denn hier schon hören?«, gab Bent zurück. »Und selbst wenn, ich könnte den Weg dahin nicht verraten. Ich habe schon mal versucht, allein dort hin zu finden.«
»Du hast was?«, fiel ihm Anselm aufgeregt ins Wort.
»Klar habe ich das«, lachte Bent. »Nun tu mal nicht so! Du selbst hast doch die ganze Bibliothek durchforstet, ob du da was entdeckst. Das habe ich bemerkt. Also tu nicht so scheinheilig.«
»Na und?« Anselm klang jetzt trotzig. »Warum auch nicht! Gegen Coralias Versteck war ja selbst der Tempel in der Flutstadt eine echte Bruchbude. So etwas Schönes habe ich davor noch nie gesehen.«
»Ja!«, flüsterte Bent plötzlich. »Und sie saß da wie eine richtige Königin, als sie mir das Schwert gegeben hat.«
Rufus hörte mit brennenden Ohren zu. Von was redeten die beiden da? Coralia in einem Versteck, das schöner war als ein Tempel? War das vielleicht der Ort, wo sie ihre Traumfluten beendete? Offenbar wussten Anselm und Bent nicht, was Rufus wusste: nämlich dass man ein Artefakt aus einer Traumflut nur in einem Gebäude ins Heute bringen konnte, das selbst aus einer Flut stammte. Das hatte er beim Auftauchen seines Wendelrings in der Hütte der Königin Bydegg festgestellt. Und natürlich musste Coralia so einen Ort auch haben …
»Mann, Anselm!« hörte er da wieder. »Schlaf jetzt bloß nicht ein!«
»Aber ich bin hundemüde.«
»Du weißt genau, wie sauer Coralia wird, wenn wir ihr keine Nachricht schicken.«
Anselm stöhnte. »Das Warten macht mich ganz krank. Warum meldet sie sich denn nicht?«
»Sie meldet sich immer erst spät nachts.«
Rufus schluckte. Was bedeutete das, eine Nachricht? Und worauf warteten die beiden? Eins war klar: Hier in seinem Bett würde er das niemals herausfinden, selbst wenn er noch so lange lauschte.
So leise er konnte, stand Rufus auf, zog sich rasch seine Sachen über und schlich aus dem Zimmer. Die Treppen in Meister Otomos Haus waren aus Holz und Rufus musste jede einzelne Stufe sicherheitshalber mit der Fußsohle abtasten und prüfen, ob sie unter seinem Gewicht auch nicht knarren würde. So dauerte es einige Minuten, ehe er das obere Stockwerk erreichte.
Durch den stockdunklen Flur, der glücklicherweise mit dicken Teppichen ausgelegt war, lief Rufus am Ende der Treppe nach links. Der zweite Türbogen war der richtige. Durch den Türspalt fiel Licht. Rufus blieb nichts anderes übrig, als die Klinke, so langsam er nur konnte, niederzudrücken. Wenn die beiden ihn sahen, musste er sich allerdings schnell eine gute Ausrede einfallen lassen. Doch wieder hatte er Glück. Die Tür öffnete sich lautlos, und Rufus gelang es, einen Blick durch den Spalt ins Zimmer zu werfen.
An einer Wand brannten mehrere Kerzenstumpen in einem Halter. Dazwischen erhoben sich alte Bücherregale. Bent und Anselm lagen auf zwei großen Diwanen. Beide sahen müde aus, lasen aber trotzdem. Ab und zu hob Anselm den Kopf und blickte zum offenen Fenster, dessen Laden weit aufgeklappt war. Rufus fragte sich noch, nach was er dort Ausschau hielt, als er plötzlich ein leises Flattern hörte. Überrascht bemerkte er eine graue Taube, die auf dem breiten Fensterbrett gelandet war.
»Endlich, da ist sie!«
Anselm stand auf und ging zu dem Vogel, den er vorsichtig in die Hand nahm. Die Taube trug einen runden Behälter am Fuß, der offenbar mit einem Wachsklumpen verschlossen war. Anselm zog das Wachs vorsichtig ab und entnahm dem Behälter einen schmalen Zettel, den er entfaltete.
»Bleibt in der Flut!«, las Anselm leise vor. »Behaltet Rufus im Auge und folgt seinen Spuren, falls es seine Flut ist! Tut alles, um ihn zu unterstützen. Findet raus, wie er die Flut meistert. Jeden Schritt! Und beobachtet, ob er morgens mit seinen Freunden über Träume spricht.«
Rufus zuckte zusammen. Coralia hatte es wirklich auf ihn abgesehen.
»Okay, alles klar«, sagte Anselm. »Hast du unsere Nachricht für heute?«
»Ja!« Bent stand ebenfalls auf und zog einen Zettel zwischen den Seiten seines Buchs hervor, den er schnell fein säuberlich zusammenrollte. »Hier.« Er reichte ihn Anselm, der ihn in den Behälter steckte und dann den Wachspfropfen wieder aufsetzte.
Dann ließ er die Taube frei, die sofort aufflog und mit zwei flatternden Flügelschlägen
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