Das Schiff aus Stein
zu.
»Ach so?«, ließ sich Filine kühl vernehmen, die den Blick sehr wohl bemerkt hatte. »Aber jetzt beim Frühstück macht es dir nichts aus, darüber zu sprechen. Und das soll ich dir glauben? Aber na gut, wenn ihr euch so gerne beim Kakao über Klogerüche unterhaltet, macht nur weiter. Ich bin ganz sicher, diese grundlegende Forschung wird die Flut bald zurückrufen.«
Rufus verkniff sich ein Lachen. Er dachte an die Gefäße, die sie gesehen hatten. Und dabei kam ihm plötzlich ein Gedanke. Er beugte sich vor. »Oliver, kannst du das Muster auf den Vasen malen, die in dem Regal standen? Diese gelben und blauen Wellen?«
Oliver nickte. Er schlug das oberste Blatt seines Zeichenblocks um und warf mit schnellen Zügen mehrere Glasvasen mit weißen, gelben und blauen Wellenmustern aufs Papier.
Rufus sah genau hin. Immer wieder entstanden unter Olivers geschickten Fingern dreifache Wellenlinien. Mitunter waren es auch sechs Wellen oder zusätzlich drei Kreise, die über oder unter den Wellen um das Gefäß liefen.
Rufus nahm sich noch ein Brötchen und hielt plötzlich inne. Wellenmuster, dachte er. Sie konnten doch Symbole sein, genauso wie die Rosette. Meister Spitznagel hatte ihm einmal erklärt, dass die meisten Brötchenformen von sogenannten Gebildebrötchen abstammten und dass die Rosette die heiligste Form überhaupt war. Sie war das Symbol des Lebenszyklus und der ewigen Wiederkehr, ein Bild in einer universellen Sprache, das ohne Worte auskam und etwas in jedem Menschen ansprach.
Und kein Muster der Welt, das die Menschen auf etwas malten, zeichneten oder auftrugen, war reiner Zufall. Wenn die Rosette etwas war, das von einem Punkt in alle Richtungen gleichmäßig ausstrahlte, dann war die Welle vielleicht so etwas wie Tal und Bergkamm. Dann bedeutete sie möglicherweise etwas, das immer wieder von Neuem ankam, das unaufhörlich ans Ufer schlug.
Rufus blickte auf. »Filine?«, fragte er. »Was bedeutet eigentlich so ein Wellenmuster hier?« Er wollte sagen »in Ägypten«, aber dann zeigte er rasch auf Olivers Bild. »Ich meine, was weißt du darüber, so allgemein?«
Filine hob den Kopf. »Na, das sind die Wellen, die ans Ufer schlagen oder sich weit über das Meer hinwegziehen. Es sind auch die Linien, die Schlangen im Sand hinterlassen, wenn sie sich vorwärtsbewegen. Es ist das Auf und Ab des menschlichen Lebens. Die Höhen und Tiefen, die jeder Mensch immer wieder durchschreitet. Und natürlich ist das Wellenmuster das Symbol der zwei Welten – Himmel und Erde, oben und unten, Leben und Tod.«
»Ja«, sagte Rufus langsam. »So was Ähnliches habe ich mir gedacht. Wenn auch nicht in so guten Worten.« Er sah die anderen an. »Und wisst ihr was?! Diese Suche ist auf all diesen Vasen und Ampullen dargestellt. Man könnte das Wellenmuster einfach für eine hübsche Dekoration halten. Aber in Wahrheit ist es viel mehr. Und wenn wir das nicht wissen oder nicht darüber nachdenken, übersehen wir es einfach. Das ist wirklich verrückt!«
Im selben Moment verschwamm das Haus Meister Otomos plötzlich vor seinen Augen. Rufus fühlte noch, wie sich Anselms und Bents Blicke auf ihn richteten, aber er kümmerte sich nicht mehr darum, denn die Flut kehrte zurück.
Es war heller Tag. Die sechs Lehrlinge standen genau vor dem Säuleneingang, an dem sie sich in der gestrigen Flut getrennt hatten.
No drehte sich sofort zu Anselm und Bent um. »Aber diesmal haut ihr nicht gleich wieder ab, klar!?«
»Nein, keine Sorge.« Anselm trat zu Rufus. »In dem Haus warst du doch gestern drin, stimmt’s?«
»Ja.«
»Dann lass uns doch auch jetzt reingehen.«
Rufus merkte, wie er zögerte. Anselm und Bent sollten ihn beobachten. Ihn ausspionieren. Doch das würde er ihnen nicht leicht machen. »Das ist nur eine Glaswerkstatt«, sagte er abwehrend. »Ich weiß nicht, ob es die richtige Spur ist.«
»Wird es schon, wenn die Flut gestern wegen uns aufgehört hat.« Anselm lächelte.
»Aber seht doch mal«, mischte sich Filine ein. »Die Werkstatt hat geschlossen.« Sie zeigte auf eine Holztür, die am Ende des Gangs den Durchgang versperrte. »Und wir werden da ja wohl kaum einbrechen können. Wozu auch, wenn kein Betrieb ist?!«
»Es muss eine Spur geben, es gibt immer eine. Jede Geschichte in einer Flut hat ihren roten Faden«, widersprach Bent.
Innerlich stimmte ihm Rufus zu. Wo, fragte er sich, würde ich weitersuchen? Er blickte die Straße entlang – erst in die eine, dann in die andere Richtung. In
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