Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schiff - Roman

Das Schiff - Roman

Titel: Das Schiff - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
ich.
    »Dieser Teil des Nebels ist voll von protoplanetarischem Staub, der von einem explodierenden Stern hierhergetrieben wurde«, erwidert Tsinoy.
    »Also kann das jede Minute passieren …«, überlegt Nell. Sie führt den Gedanken nicht weiter aus, aber wir alle kommen schlagartig zu ein und derselben Erkenntnis: Die Reiseleitung muss uns absichtlich auf einen Irrweg gelenkt haben. Und sie hatte von Anfang an vor, irgendwann die Schutzschilde zu entfernen und die drei Schiffskörper dem tödlichen Staub auszuliefern. Sie will gar nicht, dass wir eine neue Heimat finden. Sie braucht die Schiffskörper nicht, muss nirgendwohin reisen und am neuen Ziel ankommen. Will nur in ihrer winzigen Kugel auf dem kleinen Mond überleben, oberhalb der riesigen Treibstoffmengen, die sie nie aufbrauchen kann. Und hat die Maschinen gestoppt, in denen Hunderttausende von Jahren zäher Arbeit stecken.
    »Wollen wir abstimmen oder einfach anfangen?«, fragt Nell.
    »Die Abstimmung wird ja nicht lange dauern«, meint Kim, während Tsinoy zustimmend die Pfote hebt.
    »Hier geht es aber um Sekunden.«
    »Tu’s!«, sagen alle fast unisono. Tomchin beteiligt sich mit leisem Flöten.

    »Okay.« Nell gibt der Halbkugel einen Klaps. »Mit der Sequenz zur Vereinigung der Schiffe beginnen«, befiehlt sie der Schiffsleitung und verdreht die Augen nach oben. Uns kommt es wie eine Ewigkeit vor, aber vermutlich sind nur ein paar Minuten verstrichen, als es hell im Kontrollzentrum wird und leise Alarmtöne zu hören sind, die wie zarte Glöckchen klingen. Gleich darauf leuchten Anweisungen auf – Linien, Pfeile und Barrieren, und eine Stimme verkündet: »Sucht euch innerhalb des markierten Felds einen sicheren Halt. Sobald die Schiffskörper mit der Vereinigung beginnen, werden zusätzliche Sicherheitszonen geschaffen. Man wird euch dann mitteilen, wie ihr euch gefahrlos dahin zurückziehen und dort überleben könnt.«
    Die Position der Haltestangen und Halteseile ringsum verlagert sich, und zu unserer Rechten fahren neue Kontrollinstrumente aus dem Boden, während andere links von uns eingezogen werden. Es klappt. Oder zumindest tut sich etwas.
    Wir tauschen Blicke miteinander aus und helfen einander zu sicheren Standorten hinüber, reden aber nur das Nötigste. Alle lauschen auf das ständige Sandstrahlergeräusch, verursacht von den Gespenstern ungeborener Welten. Es klingt wirklich unheimlich. Zwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit bringen einen teuflischen Sog mit sich.
    Selbstverständlich haben mindestens zwei von uns noch Fragen, das liegt in unserer Natur. Aber wir sprechen diese Fragen nicht aus. Möglich, dass auch die Mädchen bestimmte Einwände und eigene Pläne haben.
Doch wir können es uns nicht leisten, die Gruppe in noch größere Angst zu versetzen. Als Team haben wir uns zumindest so weit zusammengerauft, dass alle sich zusammenreißen. Und in Anbetracht unseres Ausgangspunkts ist das ziemlich beeindruckend.
    Vielleicht wussten die Designer doch das eine oder andere, schießt mir durch den Kopf. Aber sofort folgt ein anderer Gedanke: Wie konnte es dann passieren, dass alles derart aus dem Ruder lief ?
    Aus meiner – fiktiven – Vergangenheit taucht plötzlich ein weiser alter Professor auf, der in einem literaturwissenschaftlichen Seminar zur Vorbereitung unserer Reise sagt: »Falls ihr euch fragt, wo das Böse seinen Ursprung hat, müsst ihr nur die grundlegende Natur des Menschen betrachten. Das, was daran gut ist, wird mit der Zeit verbogen, und zwangsläufig entsteht daraus das Böse.«
    Richtig, aber warum sollte ich Achtung vor einer weisen Person haben, die vielleicht niemals gelebt hat? Ich ähnele einer Figur in irgendeinem der Dramen, mit denen wir uns stets nur oberflächlich beschäftigt haben. Einer Figur, der man Gestalt verliehen hat, ohne sie mit einem Text auszustatten. Einer Figur, die man auf eine bizarre, halbleere Bühne losgelassen hat, vor der ein für uns unsichtbares kritisches Publikum sitzt. Vielleicht wollen wir unsere Zuschauer auch gar nicht sehen.
    »Crapola«, sagt mein Zwilling. Wir nicken uns zu und legen unsere Finger kurz aufeinander, denn uns ist klar, dass wir ähnliche Dinge denken und auch ähnliche Schlüsse daraus ziehen.

    » Wir existieren tatsächlich«, sagt er. »Davon zumindest kannst du ausgehen.«
    »Amen«, erwidere ich.
    Amen. Auch Nell hat das Wort schon einmal benutzt, aber damals sagte es mir nichts. Es ist ein seltsames Wort, das viele Assoziationen bei mir

Weitere Kostenlose Bücher