Das Schlitzohr
meinen Lindauer Verwandten. Besonders gern besuchte ich
meinen Onkel Karl und seine Frau, meine Tante Johanna. Daran waren ihre drei
Nichten, Liesel, Nelly und Trudel nicht ganz unschuldig. Sie wohnten zwar in
Biberach, kamen aber öfters nach Lindau zu Besuch. Als erstes lernte ich Liesel
kennen. Glücklich zog ich mit ihr durch die Stadt, die durch ihre Gegenwart für
mich plötzlich etwas Strahlendes bekam. Ich ging wie auf Wolken, und ich habe
den Eindruck, daß sie — da sie schon etwas erfahrener auf diesem Gebiet war — meine
Verliebtheit mit viel Vergnügen genoß. Sie war wirklich ausnehmend apart, und
ich wurde, als wir einmal am Dampferhafen von Lindau zu dem die Mole zierenden
Löwen abschwenken wollten, von einem Gärtnergehilfen, der sich sonst über uns
Lehrlinge absolut erhaben fühlte, mit ausgesuchter Freundlichkeit angesprochen.
Da mir seine Absichten vollkommen klar waren, ich aber keinen Wert auf
Konkurrenz legte, schlug ich meiner Cousine vor, vorauszugehen. Das Interesse
des Gehilfen an mir erlosch schlagartig. Ich eilte meinem Idol nach und
schwenkte den Weihrauchkessel meines Herzens mit einer solchen Heftigkeit, daß,
wäre besagter Weihrauch materialisiert worden, die ganze Insel Lindau nebst
umgebendem Bodensee in einer dichten Wolke verschwunden wäre. Zurückblickend
ist es mir ein Rätsel, wie das gute Mädchen den langweiligen Schwärmer
ausgehalten hat. Ich nahm sie noch nicht einmal richtig in den Arm, um ihr
einen herzhaften Kuß zu geben.
Nelly, die nächste der drei Cousinen
lernte ich bei der Konfirmation meines Vetters Kurt kennen. Als ich sie am
Morgen vor dem Kirchgang sah, brannte ich sofort lichterloh. Es war mir
vollkommen unbegreiflich, wie die anderen Gäste den Anblick von soviel Liebreiz
so gelassen hinnehmen konnten und ihr ganzes Interesse auf die Konfirmanden im
allgemeinen und meinen Vetter Kurt im besonderen konzentrieren konnten. Ich
konnte es nicht, ganz im Gegenteil. Ich saß zwar so andächtig wie nie im Gottesdienst,
aber aus meinem übervollen Herzen — der Gegenstand meiner Anbetung saß neben
mir — opferte ich der heidnischen Göttin der Liebe in dieser christlichen
Kirche. Als wir auf dem Nachhauseweg an meiner Lehrgärtnerei vorbeikamen,
beurlaubte ich mich von meiner Angebeteten, sprang über den Zaun, brach ins
Gewächshaus ein und plünderte dieses gründlich. Als ich den Gegenstand meiner
Verehrung mit meinem Blumensegen überschüttete, wurde dies von der vergnügten
Konfirmationsgesellschaft mit lautem Hallo begrüßt. Was mir, in meinem Glück
befangen, gar nicht zum Bewußtsein kam. Beim Essen scharten sich die
Erwachsenen um den Konfirmanden, während Nelly, mein Vetter Karl und ich an
einen Jugendtisch gesetzt wurden, um das Festmahl zu verzehren.
Auch am Abend saßen wir an diesem
Tisch. Beim Anstoßen stellte der jederzeit zu Streichen aufgelegte Onkel Karl
fest, daß wir das ganz verkehrt machten, indem wir nur auf die Gläser sahen.
»Beim Anstoßen sieht man sich in die Augen, das müßt ihr doch üben.« Nichts konnte
uns lieber sein, und so forderte ich alle Augenblicke das schöne Kind auf, mit
dem Training der Kunst des Anstoßens fortzufahren. Das war ein Unternehmen, das
nicht ohne Folgen blieb.
Fröhlich beschwipst versuchten wir, auf
der Terrasse das Deutschlandlied zu singen, ein Unterfangen, an dem wir von den
Erwachsenen gehindert wurden. Darauf wurde ich von der Dame meines Herzens
veranlaßt, »Guten Abend, gute Nacht« zu singen. Ich tat das dann auch mit dem
Pathos und der Hingabe eines verliebten Katers, so daß der zuhörenden
Nachbarschaft vermutlich der Gesang eines wirklichen Katers entschieden lieber
gewesen wäre. Die Festgesellschaft beschloß deshalb, uns nur noch alkoholfreie
Getränke zu verabreichen und uns zur Ernüchterung gründlich mit Berliner
Pfannkuchen vollzustopfen. Die Krapfen verspeisten wir mit großem Vergnügen,
zumal wir solcher Genüsse als Folge von Krieg und Inflation kaum einmal
teilhaftig geworden waren. Aber auch diese Freude sollte schreckliche Folgen
haben. Als Vetter Karl und ich den Auftrag erhielten, Nelly heimzugeleiten — sie
wohnte bei einem Onkel zwischen Bad Schachen und Wasserburg — , machte sich die
Wirkung der Berliner auf unsere Därme bemerkbar. Ausgerechnet auf dem
Eisenbahndamm, der Insel und Festland verbindet, ereilte mich mein Schicksal.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als den steilen Damm hinunterzustürzen, da
es oben auch nicht die Spur einer Deckung
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