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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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und geistigen Kräfte hatten unter der
Krankheit nicht so sehr gelitten, daß er sich nicht seine eigenen Gedanken
hätte machen können.
    Am liebsten beschäftigte er
sich mit Zahlen, aber nur, soweit sie die Geschichte der Anstalt betrafen. Wenn
er mit gewichtigen Schritten, die Hände auf dem Rücken, über den Hof ging,
wurde er wohl vom Inspektor oder Hausvater oder sonst jemandem gefragt:
»Friedrich, was ist heute los?« Und prompt kam die Antwort: »Heute hat der und
der Geburtstag!« Hatte zufällig einmal niemand Geburtstag, so wartete er mit
irgendeiner anderen Neuigkeit auf, etwa, daß es in acht Tagen genau
eineinviertel Jahre her seien seit dem Einzug der neuen Inspektorsleute. Aber
die Geburtstage waren ihm über alles wichtig.
    Genau wußte er auch den Tag, an
dem sämtliche Hauseltern in die Anstalt gekommen und wie alt sie jetzt waren.
In einem merkwürdigen, aber nicht unbegreiflichen Gegensatz dazu stand die
Tatsache, daß er sich nie die Nummer merken konnte, die er in die Kleider und
Wäsche der Pfleglinge einnähen sollte oder gerade eingenäht hatte. Das
interessierte ihn nicht, und darum lohnte es sich auch nicht für ihn, es sich
zu merken. Nach seiner Meinung hatten die Menschen wohl einen Geburtstag, aber
keine Nummer, und vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht.
    Am wichtigsten war ihm
natürlich sein eigener Geburtstag, den er jedes Jahr feierlich beging. Das
zeigte sich schon daran, daß er an seinem Festtag die Sonntagskleider anzog.
Selbstverständlich fiel der Tag auch unter das Gebot: »Du sollst den Feiertag
heiligen!« Das heißt, Nadel und Schere existierten für ihn an diesem Tage
nicht, auch wenn er sonst noch so pünktlich und gewissenhaft seine
Arbeitsstunden einhielt. Dann holte er sich etwa von der Hausmutter ein paar
Blumen für sein Knopfloch, damit man es ihm auch ansah, was heute los war. So
ausgestattet machte er bei allen seinen Freunden in der Anstalt Besuch, um
ihnen Gelegenheit zu geben, ihm ihre Glückwünsche auszusprechen. Nicht daß er
dabei irgendwelche Nebenabsichten gehabt hätte. Strahlend nahm er eines jeden
Wünsche entgegen. Es war sein Tag, und es war ein wunderbares Gefühl,
sich an ihm als Mittelpunkt des Ganzen zu wissen.
    Übrigens hob er immer schon am
Tag zuvor beim Hausvater von seinem selbstverdienten Geld 50 Pfennig ab und
begab sich damit ins Dorf, um Pfefferminz zu kaufen. Doch war dies nicht der
Hauptgrund für diesen Gang. Vielmehr hatte die Kaufmannsfrau am gleichen Tag
wie er Geburtstag, und so war es seine selbstverständliche Pflicht, ihr zu
gratulieren. Dies geschah denn auch gegenseitig, und wenn sie ihm dabei etwas
in die Tasche steckte, so war dies ihre Sache.
    Die Pfefferminze aber lutschte
er nicht etwa selbst, sondern verteilte sie an sämtliche Kinder in der Anstalt.
Es war sein Grundsatz, an diesem Tag nicht bloß Freude zu empfangen, sondern
auch Freude zu bereiten. Dem widersprach es nicht, daß er gelegentlich am Abend
eines Geburtstages feststellte, daß er heute viermal so viel Geld eingenommen,
als er für andere ausgegeben hatte. Er wußte auch, warum dies so war und gar
nicht anders sein konnte. Erstaunt und erfreut bemerkte er nämlich: »So geht’s,
wenn man freigebig ist; geben ist seliger als nehmen.«
    Ein großer Tag in seinem Leben war
auch immer das Jahresfest, denn da kamen viele alte Bekannte, die sich seiner
erinnerten und ihn persönlich begrüßten. Er war ja von allen Bewohnern des
Knabenhauses der Älteste! Das war auch der Grund, weshalb er immer wieder
einmal einen Kartengruß oder gar einen Brief von früheren Angestellten erhielt.
Die größte Freude war für ihn, wenn er von Bekannten eingeladen wurde, seinen
Urlaub bei ihnen zu verbringen; er hatte schon längst keine eigenen Angehörigen
mehr, die er, wie es die meisten anderen taten, von Zeit zu Zeit hätte besuchen
können. Aber so gern er verreiste, so gern kehrte er wieder zurück. »Drhoim
isch drhoim«, pflegte er zu sagen. Stetten war seine Heimat, hier hatte er
seine Arbeit und seine Freunde, hier feierte er seinen Geburtstag. Wo der
Mensch am liebsten seinen Geburtstag feiert, muß ja wohl seine Heimat sein.
     
    Auch für ihn kam der Tag, an
dem er mit Gewalt aus seiner Heimat vertrieben wurde.
    Er selbst fiel glücklicherweise
nicht in die Hände der Mörder. Aber er mußte miterleben, daß seine Kameraden
nacheinander wie Schafe zur Schlachtbank abgeführt wurden und in den grauen
Omnibussen ihre Todesfahrt antraten. Das verwand

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