Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
zu
halten. Er hatte die Tat also nicht bloß aus Torheit, sondern aus Bosheit
begangen. Er hoffte wohl, daß die Sonne sie nicht an den Tag bringen werde.
Bei manchen epileptischen
Kindern häuften sich in den nächsten Wochen die Anfälle. Andere wurden so
erregt und nervös, daß sie, wenn die Sonne auf die Dachziegel schien oder sich
in den Fenstern spiegelte, wenn dicker Rauch aus einem Kamin stieg, zu zittern
anfingen, mit den Fingern hinzeigten und entsetzt ausriefen: »Brennt, brennt!«
Trotz allem feierte die Anstalt
fünf Wochen später ihr Jahresfest im Park. Die Festansprache des erkrankten
Prälaten Planck wurde verlesen, in der er die Frage aufwarf, warum man denn in
Stetten, wo doch Gottes Werk getrieben werde, nicht von solchen Heimsuchungen
verschont bleibe?
Zwölf Jahre später wurde diese
Frage noch viel eindringlicher gestellt, und ein Schrei der Verzweiflung stieg
aus dem Tal zum Himmel empor: »Herr Gott, Herr Gott, warum hast du uns
verlassen?«
Schon beim nächsten Jahresfest
stellte der Vorstand des Verwaltungsrats voll Dank und Freude fest, daß es in
einem Jahr gelungen war, nicht bloß die abgebrannten Gebäude neu und schöner aufzubauen,
sondern auch das neue Krankenhaus aufzurichten und es mit seinen 120 Betten
einzuweihen.
Staatliche und städtische
Behörden hatten dies vor allem ermöglicht, aber auch die Gemeinde überall im
Land, deren Glieder Darlehen und Geschenke im Betrag von 65 000 Mark
aufbrachten. Aus unendlich vielen Bächlein floß dieser stattliche Strom
zusammen. Der Inspektor erzählte als Beispiel dafür eine kleine Geschichte.
Irgendwo im Land hatte eine Freundin von Stetten eine Privatnähschule
angefangen. Wenn sie nun abends ihre Nähstube aufräumte, hob sie sorgsam die
vielen Stecknadeln auf, die ihre Schülerinnen achtlos hatten liegenlassen.
Sooft sie ein Häufchen beisammen hatte, steckte sie 25 Stück auf eine Karte und
versteigerte sie wieder an ihre Schülerinnen. Fröhlich gingen die Mädchen auf
diesen Handel ein und kauften ihre Nadeln zurück. So kamen 18 Mark zusammen,
die buchstäblich vom Boden aufgelesen waren und eines Tages voller Freude
abgeliefert wurden.
Aber noch war die Zeit der Prüfungen
nicht vorbei. Am 6. Oktober 1929, nachmittags halb vier Uhr, wurde aufs neue
Feueralarm gegeben. Diesmal brannte es im Abfallraum unter der Schreinerei, wo
das Feuer sofort reichliche Nahrung fand. Zum Glück gelang es, seiner Herr zu
werden, ohne daß größerer Schaden entstand. Es wurde eine Feuerwache
eingerichtet, die in der Frühe des folgenden Sonntags einen neuen Brandherd
entdeckte, diesmal in der Schneiderei, wo ein Bügeleisen, das nicht abgestellt
worden war, den Brand verursachte.
Bei diesen beiden Brandfällen
war vermutlich Unachtsamkeit die Ursache. Doch wie leicht hätte auch durch sie
großes Unheil entstehen können!
Aber als man am 19. und 21.
Oktober zwei offenkundige Brandstiftungen gerade noch rechtzeitig, ehe sie
größeres Unheil anrichten konnten, im Treppenhaus des Schlosses entdeckte, als
infolgedessen Angst und Aufregung unter den Pfleglingen um sich griffen und
auch die Angestellten nervös wurden, war das Maß voll. Mit einem Schlag wurde
dem bösen Geist das Handwerk gelegt: vier Pfleglinge, die besonders schwierig
waren und durch ihre Unzufriedenheit und aufrührerischen Reden schon immer
Unruhe gestiftet hatten, wurden aus der Anstalt entfernt. Sie hatten sich der
Freiheit, die sie in Stetten genossen, als unwürdig erwiesen und wurden in eine
Irrenanstalt verbracht. Einen von ihnen nahm sein Vater zu sich nach Hause,
weil er mit der Maßnahme nicht einverstanden war.
Jetzt hatte man Ruhe und konnte
auf atmen. Und doch — der Missetäter, der Stall und Scheune angezündet hatte,
hielt sich noch im Verborgenen. Erst im Jahr darauf, als er einmal, in der Wut
sich selbst vergessend, den Hausvater anschrie: »Ich zünd euch noch die ganze
Bude an!«, verriet er sich selbst.
Er wurde verhört und gestand
schließlich alles. Er wurde nach Winnenden gebracht und dort unter strenge
Aufsicht gestellt.
Diese letzten Jahre waren für
alle in der Anstalt Verantwortlichen wahrlich besonders schwer gewesen, und es
war nicht zum Verwundern, daß der Inspektor nach der Einweihung des
Krankenhauses an seinen Abschied dachte.
Mehr als einmal hatte ihm in
diesen zehn Jahren der Boden unter den Füßen gewankt, und doch bekannte er in
seinem Abschiedswort, daß Gott die Anstalt durch gute und böse Tage
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