Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
er nie. Mitten im Winter, am
28. Dezember 1940, mußte er aus Stetten fliehen. Er kam mit anderen Pfleglingen
in die Zieglerschen Anstalten nach Wilhelmsdorf.
Auch hier wurde er in der
Schneiderei verwendet und nähte Knopflöcher. Aber Stetten konnte er nicht
vergessen. Er schrieb seinem Inspektor Briefe voll Heimweh ins Feld und, als
dieser wieder in Stetten war, auch dorthin; so etwa im März 1947: »Schon sechs
Jahre arbeiten wir hier in der Schneiderei. Oh, wie froh wären wir, wenn Sie
uns wieder nach Stetten aufnehmen würden, wo ich meine längste Lebenszeit durchgemacht
habe. Ich habe am 6. März schon mein 71. Lebensjahr geschlossen. Ich habe von
manchen Bekannten, die mich in Stetten gekannt haben, Post erhalten an meinem
Geburtstage... Ich denke immer im Gebet an Euch und an die anderen Bekannten
dort in Stetten. Ich wünsche Euch allen dort wieder ein gesegnetes Frühjahr und
ein gesegnetes Osterfest sowie allen Bekannten in Stetten... Auf baldiges
Wiedersehn.«
Noch über ein Jahr mußte er
warten, bis er, im Mai 1948, die Heimfahrt nach Stetten antreten konnte. Wohl
war er inzwischen alt und gebrechlich geworden, aber sein Herz war voller Dank.
Äußerlich hatte sich in der
Anstalt vieles zu ihrem Nachteil verändert, seit sie fremden Zwecken gedient
hatte, und doch war es ein freudiges Wiedersehen mit der Kapelle und dem Turm,
den Häusern und Höfen, dem Park mit seinen schönen Bäumen, vor allem aber mit
lieben alten Bekannten. Es war Friedrich, als dürfte er wieder da anfangen, wo
er vor acht Jahren aufgehört hatte, und so fand er sich schon am Tage darauf in
der Schneiderei ein, um seinen Teil am Wiederaufbau des alten Stetten
beizutragen. Der größte Tag seines Lebens, sein 60jähriges Anstaltsjubiläum,
wurde am 28. August feierlich begangen, mit Singen und Festreden, mit Blumen
und Festessen und einem Extrakuchen für den Jubilar. Leider bekam er auch an
seinem Ehrentag einen leichten Anfall, so daß er im Hof des Männerhauses zu
Boden stürzte und ins Haus getragen werden mußte. So war es ja 60 Jahre lang
sein Los gewesen, das er ohne Murren getragen hatte. Es hatte ihn nicht
gehindert, beharrlich seinen unscheinbaren Dienst zu tun und jedem, der seinen
Weg kreuzte, auf seine Weise Freude zu machen. Ein halbes Jahr später starb er
und wurde auf dem Friedhof in Stetten begraben, das seine irdische Heimat
gewesen war. Hier hatte er das »wunderbare Etwas« erlebt, ja, er hatte selbst
dazu beigetragen, diese Luft zu schaffen, in der sich so viele wohl fühlten.
Es dauerte freilich manchmal
lange, bis es soweit war.
Da war ein kleiner Bub, der
mußte am ersten Abend nach seiner Ankunft erleben, daß die Pflegerin einem
anderen Buben das Glasauge herausnahm, um es zu reinigen. Voll Entsetzen schrie
er die Pflegerin an: »Du bischt a Letze (eine Falsche), du machscht jo de
Kinder d’ Auge raus!« Er konnte sich lange nicht darüber beruhigen, daß man
hier so grausam mit Kindern umging. Immer wieder sinnierte er: »Worum hot mi
mei Mutter fortdoa?« Schließlich gab er sich selbst die Antwort darauf: »Gell,
weil i nix be?« Er empfand es also als ein Zeichen von Minderwertigkeit, in der
Anstalt sein zu müssen.
Wie leicht geschieht es da, daß
sich im Herzen ein Widerwille ansammelt gegen alles, was mit der Anstalt zu tun
hat und in ihr geschieht.
Erst viel später wird man dann
merken, daß es auch sein Gutes hat, unter Leidensgenossen zu leben und in einer
großen Liebe geborgen zu sein, die jedes einzelne trägt.
So ging es der Christine, die
an einem Samstagnachmittag einen Besuch in Stuttgart machen durfte und
glückselig war, als sie wieder die Stettener Luft atmete. »Der Lärm in
Stuttgart«, erzählte sie der Hausmutter, »und das Laute, dem bin ich halt nicht
mehr gewachsen. Wo ich an der Rommelshauser Anstalt war, bin ich froh gewesen,
denn da wußte ich, jetzt bist du auch bald vollends zu Hause, und da ist’s
still und ruhig.«
Die vierzehnjährige Anneliese
aber erklärte ihren Eltern schon nach ein paar Tagen Urlaub: »I will wieder zu
meine Kinder«, und ließ ihren Eltern keine Ruhe, bis sie sie längst vor Ablauf
des Urlaubs wieder nach Stetten brachten.
In manchen lebt freilich ein
unausrottbarer Wandertrieb. Die Anstalt ist ja kein Gefängnis, man kann hier
ungehindert aus- und eingehen.
Da ist der Peter, den immer
wieder die Wanderlust packt. Eines Morgens ist er einfach verschwunden, und
niemand weiß, wo er sich herumtreibt. Man sorgt sich um ihn,
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