Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
der Fahrer recht
besinnen konnte, ob es nicht besser wäre, wenn er ihn wieder nach Stetten
zurückführe, waren sie schon in Stuttgart auf dem Bahnhof, und der Mäxle
mietete sich tatsächlich ein Auto, als wäre das die selbstverständlichste Sache
von der Welt.
Schon in einer Stunde war er an
Ort und Stelle. Vor dem Dorf stieg er aus, bedankte sich schön, bezahlte seine
Schuld und ging vorsichtig in den Obstgarten, der hinter dem Hause lag.
Und da ist es wie immer um
diese Zeit: Da blühen die Zwetschgenbäume und die Birnen und die frühen Äpfel —
es ist eine Pracht. Am liebsten würde er sich ins Gras legen, wie er das als
Bub immer gemacht hat, als er noch keine Anfälle bekam. Aber dazu hat er jetzt
keine Zeit. Er will ja der Schwester »Grüß Gott« sagen und den Kindern und dem
Schwager. Aber das Haus ist geschlossen; offenbar sind die Großen auf dem Feld
und die Kinder in der Schule. Ach ja, jetzt ist die Zeit zum Kartoffellegen;
daran hat er noch gar nicht gedacht. Er könnte auf den Acker gehen, er weiß
gut, wo er ist. Aber er kommt sich plötzlich so einsam und verlassen vor, wie
ausgeschlossen. Was wird der Schwager für ein Gesicht machen, wenn er ihn
kommen sieht, und die Schwester wird erschrecken: »Mäxle, was machst denn du
hier?« wird sie sagen. »Haben sie dich denn fortgelassen? Du hast doch
geschrieben, du könnest nicht mehr recht laufen und liegest im Krankenhaus!«
- Nein, es ist besser, er geht gleich
wieder, ohne daß sie sich aufregen. Er ist ja doch daheim gewesen und hat sich
wieder einmal alles angesehen. Die in Stetten werden gucken, wenn er plötzlich
wieder dasteht und so tut, als wäre gar nichts gewesen.
So humpelt er an seinem Stock
wieder auf die Straße. Und da will es der Zufall — oder ist es sein
Schutzengel? —, daß er gerade dem Polizeidiener in die Arme läuft. Oh, der
kennt ihn gut, der hat ihn schon einmal nach Stetten zurückgebracht, als er
ausgerissen war.
»So so«, sagt er, »bist auch
wieder hier. Wie bist denn hergekommen?«
»Mit dem Auto«, sagt er und
lacht über das ganze Gesicht.
Der Polizeidiener lacht auch.
»Und wo willst jetzt hin?«
»Halt wieder nach Stetten.«
»Hast denn Geld?«
»Natürlich hab ich Geld.«
Er will seinen Geldbeutel
ziehen. Aber da fällt er hin, mitten auf der Straße, und bekommt einen
regelrechten Anfall. Der Polizeidiener, der ein starker Mann ist, hebt ihn vom
Boden auf und legt ihn behutsam an eine Hauswand, daß ihm nichts passieren
kann. Zum Glück ist die Straße ganz leer; kein Mensch ist bei dem schönen
Wetter um den Weg. Es ist auch nur ein leichter Anfall. Max kommt bald wieder
zu sich, und der Polizeidiener nimmt ihn am Arm und führt ihn aufs Rathaus,
heißt ihn auf eine Bank sitzen und meldet die Sache vorschriftsmäßig dem
Bürgermeister. Der sagt bloß: »Umgehend nach Stetten zurück, und du fährst mit.
Wer’s zahlt, werden wir dann sehen.«
So fahren die beiden
miteinander im Zug nach Stetten, und der Polizeidiener bekommt in Stetten ein
gutes Mittagessen.
Bis der Doktor seine Visite
macht, liegt der Max freudestrahlend wieder in seinem Bett.
»Was machst denn du für
Sachen?« sagt der Doktor, aber der Ausreißer lacht ihn unschuldig an wie ein
Kind:
»Ha, i han halt wieder amal
gucke müsse, wie’s drhoim aussieht.«
Da geht der Doktor
kopfschüttelnd weiter, damit der Patient nicht sieht, daß er sich selber das
Lachen verbeißen muß.
Ein anderes Mal war es der
Georg, der dem Inspektor zu schaffen machte. Er hatte zwar in Stetten die
Schule besucht, aber sein Geist war so schwach, daß er nicht konfirmiert werden
und auch kein Handwerk lernen konnte. So gehörte er zu den Pfleglingen, die man
mit ganz leichter Arbeit beschäftigt, damit sie wenigstens das Gefühl haben,
doch auch zu etwas brauchbar zu sein auf der Welt. Auch schmeckt ihnen dann das
Essen besser, und sie kommen auf keine dummen Gedanken. Das geht eine Zeitlang
ganz gut, bis sie — vielleicht haben’s ihnen andere aufgeschwätzt — plötzlich
zu der Ansicht kommen, sie seien nicht zur Arbeit verpflichtet, da für sie ja
Kostgeld bezahlt werde; sie hätten es also nicht nötig, sich zu plagen und zu
schinden; je mehr sie arbeiteten, um so schlimmer gehe es ihnen, und diese
Anstalt sei eigentlich keine Anstalt mehr, sondern ein Gefängnis. Da ist es
manchmal heilsam, wenn sie wieder einmal in die Freiheit hinauskommen, damit
ihnen dieser Komplex vergeht. Sie spüren es dann plötzlich wieder, wie schön
sie
Weitere Kostenlose Bücher