Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
es im Grunde hier haben und daß man es mit ihnen gut meint, auch wenn man
etwas von ihnen verlangt.
Der Georg war auch einer von
denen, die eines Tages die Anstalt satt hatten. Und so brach er auf — im frühen
Winter — , um seine Heimatstadt Schweinfurt zu Fuß zu erreichen. Dort lebte
noch, in ärmlichen Verhältnissen, seine Mutter. Er hatte sie lange nicht
gesehen, aber am vergangenen Christfest hatte sie ihm wieder einmal
geschrieben, auch ein kleines Päckchen geschickt. Dafür wollte er sich bedanken
und sie fragen, ob er denn immer in der Anstalt bleiben müsse. Weil er aber
niemanden hatte, der ihm das Geld zur Reise geschickt hätte, mußte er den
weiten Weg unter die Füße nehmen und sich kümmerlich von Äpfeln nähren, die
noch vergessen auf den Bäumen hingen, und von Kartoffeln und Zwiebeln, die er
im Felde fand. Unterwegs schlief er irgendwo im Heu, bettelte wohl auch eine Tasse
Milch und ein Stück Brot und hielt es so fünf Tage aus, in denen er aber nicht
weiter als bis in die Nähe von Weinsberg kam. Anfangs hatte auch er sich
kindlich gefreut bei dem Gedanken, wie sie ihn jetzt in der Anstalt suchen
würden. Aber nach den fünf mühseligen Tagen und kalten Nächten dämmerte es ihm
langsam, daß er es in Stetten doch eigentlich viel schöner habe: sein gutes
Essen, sein warmes Bett und die Kameraden, vor denen er sich nicht zu fürchten
brauchte wie vor den Hunden, die sich wie rasend gebärdeten, wenn er in die
Nähe eines Hofes kam.
In der Dämmerung des fünften
Tages schlich er hungrig und müde durch eine Dorfstraße. Da wurde er von einem
Landjäger angehalten, der ihn nach seinem Woher und Wohin fragte. Als der Name
Stetten fiel, brachte ihn der Mann kurzerhand ins Pfarrhaus, denn es war ihm
bekannt, daß der Inspektor von Stetten an diesem Abend einen Vortrag über seine
Anstalt halten wollte. Georg war nicht wenig erstaunt und bestürzt, als er im
Arbeitszimmer des Pfarrers sich plötzlich seinem Inspektor gegenübersah, der
ihn aufs freundlichste mit den Worten empfing:
»Ja, grüß dich Gott, Georg, wo
treibst denn du dich herum? Wir suchen dich ja schon bald eine Woche lang.«
Der Georg wußte nicht recht, ob
er lachen oder heulen solle. Die Füße taten ihm weh, Hunger hatte er auch, und
so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu sagen: »Ha, i han halt nach
Schweinfurt wolle, zu meiner Mutter, aber i han de Weg net gfunde.«
»Und da hat dich der liebe Gott
gerade im rechten Augenblick zu mir gebracht, und morgen fahren wir wieder
miteinander heim, gelt, Georg?«
Der nickte bloß und war von
Herzen froh, daß sein Abenteuer ein so gutes Ende fand. Er durfte im Pfarrhaus
übernachten, nachdem er sich vorher noch sauber gewaschen und ein gutes warmes
Essen bekommen hatte. Am andern Morgen fuhr er getrost mit seinem Inspektor
wieder heim.
Aber nicht immer lief es so gut
ab. Und wenn einer das Ausreißen gar nicht lassen konnte, mußte man ihn
schließlich doch in eine Anstalt bringen, wo Tür und Tor verschlossen sind.
So erging es dem August, den
sein Hausvater eines Tages auf dem Polizeipräsidium in Stuttgart abholen mußte.
August war keineswegs bereit mitzugehen. Erst als der Hausvater ihm eine
Zigarre versprach, gab er seinen Widerstand auf.
Er war jedoch an keine Ordnung
zu gewöhnen. Nachdem er bei seinem ersten Ausflug nach Stuttgart die Luft der
Freiheit geschmeckt hatte, verschwand er schon nach zwei Tagen aufs neue. Aber
diesmal ereilte ihn sein Geschick bereits auf der Landstraße nach Fellbach, wo
er einen Anfall bekam und mitten auf der stark befahrenen Straße liegenblieb.
Es war wie ein Wunder, daß ihn hier der Anstaltsarzt entdeckte, der gerade im
Auto vorüberfuhr. Er brachte ihn sofort nach Stetten zurück. August wurde ins
Bett gesteckt. Da Weihnachten vor der Tür stand, verhielt er sich etliche
Wochen ruhig. Aber schon am zweiten Feiertag ließ es ihm keine Ruhe mehr. Noch
vor dem Frühstück riß er wieder aus. Diesmal entdeckte man seine Flucht sofort
und brachte ihn nach kurzer Zeit von Rommelshausen zurück. Wieder wurde ihm
Bettruhe verordnet; die Kleider wurden ihm abgenommen, um ihm die Flucht zu
erschweren. Er lag mit geschlossenen Augen da, und niemand ahnte, daß er
insgeheim schon einen neuen Fluchtplan schmiedete.
Am übernächsten Morgen war er
wieder verschwunden und mit ihm die Kleider seines Bettnachbarn. Er mußte durch
ein Fenster der Haustür geklettert sein, das so eng und schmal war, daß niemand
gedacht hätte, er könne
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