Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
weil er die schwerste Enttäuschung seines Lebens erfahren
hatte, schrieb er an den »Stellvertreter des Führers« selbst, an Rudolf Heß. Er
berichtete, was das Begleitpersonal beim Abholen des Transportes geäußert
hatte, und bekannte, daß infolgedessen schon damals der Verdacht in ihm
aufgestiegen sei, es handle sich nicht um eine Verlegung, sondern um eine
Beseitigung. Eine derartige Aktion könne unmöglich verborgen bleiben. Schon
pfiffen es die Spatzen von den Dächern, was mit den Schwachsinnigen und
Epileptikern geschehe. Er könne nicht verstehen, daß der Staat mit solchen
Mitteln arbeite. Im Dritten Reich müßten Reinheit und Sauberkeit in der
gesamten Staatsführung erster Grundsatz sein. Wo bleibe da die Sorge für die in
jeder Beziehung Schwachen, die doch nicht nur im Programm der Partei stehe,
sondern durch die NSV weithin in die Tat umgesetzt werde und die ihm immer
besondere Hochachtung abgenötigt habe? Es sei kein Zweifel, daß durch diese
Maßnahmen eine tiefe Beunruhigung in die Bevölkerung getragen werde, zumal
niemand sicher sei, ob er nicht auch einmal ein Kind haben werde, das unter
diese Aktion fallen könne.
Der tapfere Mann ging mit
diesem Brief in der Tasche in das Innenministerium nach Stuttgart. Der
Ministerialrat, dem er sein Herz ausschüttete, erklärte ihm sofort, daß er aufs
schwerste bestraft werde, falls er außerhalb dieses Sprechzimmers auch nur
einen Ton davon sage, daß Kranke umgebracht würden.
Er zog seinen Brief an Rudolf
Heß heraus und legte ihn dem Beamten vor, mit der Bitte ihn weiterzuleiten.
Dieser las ihn und sagte: »Ich rate Ihnen, diesen Brief nicht abzuschicken.«
So fuhr er unverrichteter Dinge
wieder heim. Aber den Brief schickte er dennoch ab und wartete nun gespannt auf
die Antwort. Sie kam schneller, als er gedacht hatte, enthielt jedoch nur die
Mitteilung, daß man die Angelegenheit an die zuständige Stelle, nämlich an
Himmler, weitergegeben habe. Von dort werde er Nachricht erhalten. Die aber
traf nie ein. Rupp erfuhr lediglich, daß sich die Gestapo auf dem
Innenministerium nach ihm erkundigt habe.
Nun schrieb er an den
Landesverband der Inneren Mission und teilte ihm die Vorgänge mit. Freilich
wurde ihm dadurch die Sorge um seine Kranken nicht abgenommen. Es lag wie ein
Bann auf Stetten, auf Gesunden und Kranken, auf Pflegern und Pflegebefohlenen.
Ein Glück, daß sowohl der
Inspektor als der Arzt Anfang September 1940 in Urlaub kamen. Denn gerade in
diesen Tagen traf in Stetten eine zweite Transportliste ein mit den Namen von
150 Kranken, die »aus Gründen der Reichsverteidigung« in eine andere Anstalt
»verlegt« werden sollten.
Lehrer, Pfarrer und Arzt waren
sich darin einig, sich bis aufs äußerste dagegen zu wehren. Die beiden
Kriegsteilnehmer sahen sich plötzlich an eine Front versetzt, auf der nicht
minder heftig gekämpft werden mußte als draußen, aber einem unsichtbaren Feind
gegenüber, der mit allen Mitteln der List, der Verlogenheit und der Gewalt
kämpfte, um sein Ziel zu erreichen: »die Vernichtung lebensunwerten Lebens.«
Ihnen aber standen nur sehr ungleiche Waffen zur Verfügung: das Recht, die
Liebe und das freimütige Wort.
»Dieses Vorgehen ist völlig
ungesetzlich, und wir haben nicht bloß als Christen, sondern auch als
Staatsbürger das Recht, ja die Pflicht, uns diesem Unrecht zu widersetzen«,
sagte der Pfarrer zu den andern beiden.
»Neuerdings heißt es, es liege
ein Geheimbefehl des Führers vor«, antwortete der Lehrer.
»Ein Geheimbefehl ist keine
gesetzliche Grundlage in einer Sache, die von so weittragender Bedeutung ist.
Darin sind wir uns alle einig. Man hält es ja nicht einmal für nötig, uns die
eigentlichen Gründe zu nennen. Was soll das schon heißen: ›aus Gründen der
Reichsverteidigung‹? Darunter kann man alles Mögliche verstehen.«
»Im Volk heißt’s einfach: Die
unnützen Esser müssen weg«, sagte der Lehrer. »Das Traurige ist, daß sich viele
schon damit abgefunden haben. Manchen Angehörigen scheint es sogar ganz lieb zu
sein, wenn sie die Sorge um ihren Pflegling los sind.«
»Diese Leute können für uns
nicht maßgebend sein«, meinte der Arzt. »Gewissenlose Menschen hat es zu allen
Zeiten gegeben; sie wollen kein Opfer bringen. Aber Menschen, die Opfer
scheuen, kann auch unser Staat nicht gebrauchen. Das muß man der Regierung zum
Bewußtsein bringen. Und vor allem muß eine ganz klare Grenze gezogen werden,
und zwar durch ein Gesetz. Auf der Transportliste stehen
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