Das Schloß der blauen Vögel
zurück und band Ilse Trapps los. Als die Lederschlaufen gelöst waren, sprang sie sofort auf, stieß Sassner mit beiden Fäusten zur Seite und rannte hinaus. Sassner lachte dumpf und tief, rieb sich die Stirn und schien sehr zufrieden zu sein.
»Sie schwebt wie ein Ballon«, sagte er zu sich selbst. »Das ist eine völlig neue Erkenntnis …«
Während er wieder in sein Turmzimmer stieg, schlich sich Ilse Trapps aus dem Haus. Sie hatte in aller Eile ein paar Kleider zusammengerafft und in einer Beuteltasche verstaut. Kleider und Wäsche gibt es überall, dachte sie. Nur weg von hier, sofort weg, ehe er es sich anders überlegt. Sie nahm alles Geld mit, das Sassner ihr gegeben hatte, als er seine ›Klinik‹ gründete. Es waren noch dreitausendzweihundertneunundvierzig Mark, ein gutes Anfangskapital für ein neues Leben in irgendeiner Stadt, wo man nichts wußte von Ilse Trapps und wo sie unterging in der anonymen Masse. Hamburg oder München, dachte sie, als sie in der Garage stand und leise das Tor aufschob. Am besten Hamburg. Dort fällt man am wenigsten auf, dort sind die Chancen des Geldverdienens größer als anderswo. Ein möbliertes Zimmer irgendwo in einer Hafengasse, unauffällig und billig. Das Auto konnte man auch verkaufen, gute Zweitausend bekam man bestimmt noch dafür. Egon Trapps hatte es immer gepflegt. Der gute, alte Egon.
Endlich war das Garagentor offen. Ilse Trapps setzte sich hinter das Steuer des Wagens, ließ den Motor an und jagte gleich mit Vollgas hinaus auf den Hof und in einem Bogen schleudernd auf die Straße.
Im Rückspiegel sah sie, wie Luise aus dem Haus stürzte.
Leb wohl mit deinem Irren, dachte Ilse Trapps triumphierend. Sieh mir nur nach … mich hält niemand mehr auf! Ich fahre hinaus in das Leben … bleibt ihr in eurer dumpfen Gruft.
Voller Triumph hupte sie sogar zum Abschied und lachte in den grellen Ton hinein. Dann raste sie durch den Wald auf die Chaussee zu und atmete tief auf, als sie das blanke Asphaltband vor sich sah.
Vorbei! Vorbei! Der Freiheit entgegen!
Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und atmete tief die frische Luft ein. Sie kam sich vor wie neu geboren, verjüngt wie eine Schlange, die ihre alte Haut abgestreift hat.
Eine halbe Stunde später erreichte sie die Autobahnauffahrt und fuhr vergnügt nach Norden. Als sie nach drei Stunden das Frankfurter Kreuz passierte, war sie sicher. Hier wußte niemand mehr, wer Gerd Sassner war, und die Sonderkommission in Stuttgart war so weit wie ein Krater im Mond.
In Köln parkte sie den Wagen auf dem Heumarkt und ließ sich im nächsten Friseurgeschäft die Haare schwarz färben. Als sie aus dem Laden kam, war sie völlig verändert. Auch der beste Steckbrief hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit ihr.
Ilse Trapps hatte begonnen, in der Masse Mensch unterzutauchen.
Und es gelang ihr.
Vor der Klinik Hohenschwandt erschienen wieder die großen Wagen. Seriös wirkende, sich sehr distinguiert gebende Herren stiegen aus und wurden von Dr. Keller und Dr. Kamphusen unter dem Vordach begrüßt und in das Schloßgebäude geführt.
Professor Dorian hatte zu einem neuen Vortrag eingeladen. Die Einladungen waren an alle ergangen, die als seine ärgsten Feinde galten, und sie waren gekommen, aus ganz Deutschland, aus der Schweiz und Österreich, Frankreich und Italien. Zwei Tage dauerte die Anfahrt. Der gemeinsame Abend war harmonisch. Wie unter guten alten Freunden saß man im Kaminzimmer zusammen, unterhielt sich über alles mögliche, vor allem über Theater und Kunst, aber mit keinem Wort über Medizin und Hirnforschung im besonderen.
»Was er wohl vorhat?« fragte Professor Haberstock seinen Kollegen Popitz, als sie nach dem Abendessen noch ein wenig im Klinikpark spazierengingen.
»Er wird seinen Schwanengesang singen.« Professor Popitz sah an den Wänden des alten Schlosses empor. »Er wird uns sein Leid klagen.«
»Und wir werden ihm Trost zusprechen.«
»Natürlich. Kollege Ilmenau will sich sogar entrüsten.«
Professor Haberstock lachte in sich hinein. Er genoß diese Situation. Im Leben sind solche Stunden selten, in denen man einen großen Feind mit fliegenden Fahnen untergehen sieht, während man selbst die Hände wohlig in den Schoß legt.
»Was soll aus Hohenschwandt werden?« fragte Haberstock.
»Soviel ich gehört habe, will das Land Bayern es übernehmen als Landesheilanstalt für besonders schwierige Fälle.«
»Aber das geht doch erst, wenn Dorian verkauft!«
»Zweifeln Sie daran? Es
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