Das Schloß der blauen Vögel
Kriminalbeamte. Aber dieser Teufel macht auch hier eine Ausnahme …«
Dorian legte auf. Dr. Keller blätterte nervös in neuen Röntgenaufnahmen, die aus der Röntgenstation gebracht worden waren.
»Wieder ein Opfer?« fragte er.
»Nur zerrissene Wäsche. Es muß ein Kampf stattgefunden haben.«
»Und wo?«
»Diesmal bei Pforzheim.«
Dr. Keller sah kurz auf die Deutschlandkarte, die – mehr eine Zierde, als ein Gebrauchsgegenstand – an der Wand hinter Dorians Ledersessel hing. Er legte die Röntgenaufnahmen hin und trat an das bunte Kartenbild.
»Fällt dir nicht auf, daß nur auf einem bestimmten Streckenabschnitt Menschen verschwinden?« fragte er.
»Das fällt doch jedem auf. Darum läßt die Polizei dort auch Tag und Nacht Patrouillen fahren«, erwiderte Dorian.
»Die Polizei … uns sollte das auffallen.«
»Uns?« Dorian stand auf und trat neben Dr. Keller. »Was soll das heißen?«
»Zwischen beiden Autobahnen liegt der Schwarzwald.«
»Na und?«
»Ich habe mir seit langem Gedanken darüber gemacht.« Dr. Keller ging zu dem kleinen Rauchtisch und zündete sich eine Zigarette an.
»Verschwiegen habe ich dir auch, daß Angela und ich bei Frau Sassner waren.«
»Ach! Und warum?« Dorian drehte sich etwas konsterniert von der Wandkarte weg. Über seine Brillengläser hinweg musterte er seinen Schwiegersohn.
»Für dich ist Gerd Sassner tot, nicht wahr?«
»Ja. Natürlich.«
»Und wo ist seine Leiche?«
»Im Schlamm des Sees.«
»Das wäre eine einfache Lösung. Aber ich glaube nicht daran. Ich habe im Gegenteil das dumpfe Gefühl, daß Gerd Sassner noch lebt.«
»Verrückt. Verzeih, mein Junge, aber das ist absurd.«
Dorian ging unruhig hin und her. Er durchmaß das Zimmer mit ungewöhnlich ausgreifenden Schritten, die man gar nicht an ihm kannte. »Er hat Selbstmord begangen.«
»Aber warum?«
Diese Frage war wie ein Hieb. Dorian blieb ruckartig stehen. Er wußte, was Dr. Keller damit sagen wollte, und er hatte darauf gewartet, die ganzen Wochen.
»Ich weiß«, sagte Dorian ruhig, »meine Operation war ein Mißerfolg.« Er hob die Hand, als Dr. Keller wieder etwas sagen wollte, und nickte. »Seit Wochen trage ich es mit mir herum; es liegt mir auf der Seele wie eine Zentnerlast. Ich habe nie darüber gesprochen – mit wem sollte ich? Stundenlang habe ich mir die Röntgenbilder Sassners angesehen, habe die Operation im Geist noch einmal nacherlebt … mindestens dreißigmal. Was habe ich falsch gemacht, habe ich mich gefragt. Wo liegt der Fehler? Was habe ich nicht beachtet … oder ganz einfach nicht gewußt?« Dorian wischte sich über die Stirn. »Wir haben es alle miterlebt: Sein Kriegserlebnis war verschwunden. Der alte Schuh wurde feierlich begraben. Sassner wird wieder ein fröhlicher, gesunder Mensch. Die Operation hatte ihm nichts von seinen geistigen Fähigkeiten genommen, er war ein zärtlicher Familienvater, ein liebender Gatte. Und dann begeht er plötzlich Selbstmord. Eine Schaltung in seinem Hirn versagt … das Hirn, das ich operiert habe! War es mein Fehler? Trifft mich die Schuld? Ich habe mich das immer wieder gefragt, und ich wußte dann die Antwort.« Dorian sah zu Boden auf den wertvollen alten Teppich. »Willst du sie hören?«
»Ich kenne sie.«
»Ich habe einen Fehler gemacht, nur weiß ich noch nicht, wo und wie. Die Operation ist mißlungen, vor den Augen der größten hirnchirurgischen Experten, und keiner hat es gemerkt. Auch ich nicht. Nur der Selbstmord Sassners beweist es!«
»Und wenn er noch lebt?«
»Bernd …« Dorian setzte sich. Seine Knie zitterten plötzlich. »Du willst doch nicht sagen, daß diese mordende Bestie … Bernd … das darf nicht sein! Das ist auch völlig ausgeschlossen.«
»Warum ausgeschlossen?«
»Mein Gott!« Dorian legte beide Hände vor die Augen. Einmal, vor ein paar Tagen, hatte er selbst diesen Gedanken gehabt, aber sofort wieder von sich weggeschoben. Es war ja so einfach, zu glauben, daß Sassner unten im verschlammten See von Wilsach lag, ein Opfer der Medizin, das auf Dorians Gewissen drückte und ihn mit Selbstvorwürfen seit Tagen aushöhlte. Um sich zu betäuben, hatte er sich vermehrt in die fast utopisch anmutende Forschung von der Übertragbarkeit der Intelligenz gestützt, aber der innere Druck hielt an.
Nun gut, man konnte sagen: Jeden Tag sterben auf der Welt Tausende von Menschen an Operationen. Es würde ein Wehklagen geben, lauter als ein Orkan, wenn jeder Arzt sich deswegen anklagte. Auch ein Arzt
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