Das Schloss der tausend Sünden
Dosis.
Hatte er das Recht, Belindas Leben aufs Spiel zu setzen? Und wenn er sie über die Gefahren des Rituals aufklärte, konnte er ihr dann noch so viel bedeuten, wie das Ritual es verlangte?
André konnte es ihr auf keinen Fall verschweigen. Schon jetzt, nach nur einem Tag der Bekanntschaft, empfand er eine seltsame Zuneigung für sie. Und außerdem würde jede Täuschung den Zauber zunichtemachen. Das Werkzeug musste sich der Vorgänge bewusst und durch und durch willens sein.
Der Graf schob seine Zweifel einen Moment beiseite und dachte darüber nach, welche anderen Elemente er für seine Bestrebungen zusammentragen musste. Heilige Erde war nicht schwer zu finden. Dafür war die heruntergekommene Kapelle des Anwesens genau der richtige Ort. Kerzen, Räuchermittel, Bänder? Ja, all das hatte er im Überfluss. Alles war in Erwartung der Ankunft eines passenden Wesens seit Jahrzehnten vorbereitet. Was ihm einzig noch fehlte, war eine beaufsichtigende Zauberin, die der letzten Stufe des Zaubers beiwohnte – eine entscheidende Voraussetzung.
Michiko, seine liebe Freundin und Trösterin, hatte ihm einst versprochen, immer auf Nachricht von ihm zu warten. Doch war er schon stark genug, sie zu rufen? Über weite Entfernungen war ihre geistige Verbindung nur schwach. Und selbst wenn er sie erreichen würde, wie schnell könnte sie wohl bei ihm sein?
«Michiko», murmelte er, schloss das Grimoire und legte es beiseite. «Michiko-San … Wo bist du? Ich brauche dich … Komm zu mir …»
Schon bald stieg ein Bild vor seinen Augen auf. Es war kein Bild der Gegenwart, sondern viele Jahrzehnte alt. Ersah Michiko in dem wunderschönen, festlichen Kimono, den sie bei ihrer ersten Begegnung in Japan getragen hatte. Das war zu einer Zeit der relativen Stärke gewesen, in der er ständig herumgereist war, um der Entdeckung durch Isidora zu entgehen.
Um an seine ganz bestimme Form der «Nahrung» zu gelangen, hatte sich der Graf einer berühmten Kurtisane vorstellen lassen – Madame Michiko, eine Dame, die zur Elite ihrer Profession gehörte. Nachdem sie ihn in ihr Boudoir gebeten hatte und die beiden sich mit überkreuzten Beinen auf der Tatami-Matte gegenübersaßen, bemerkte er sofort, was sie wirklich war: eine Miko, eine weiße Zauberin, die mit demselben langen Leben wie er gesegnet – oder geschlagen – war.
«Ich fühle Euer Dilemma, Mylord», hatte sie hinter ihrem flatternden Fächer in seiner Muttersprache gesagt. André war beeindruckt von ihrer Sprachbegabung. Auch wenn sie aufgrund ihrer geistigen Gabe wenig Grund zum Sprechen hatte. «Bitte nehmt meine bescheidene Hilfe in dieser Angelegenheit an. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Euch zum Erfolg zu verhelfen.» Mit diesen Worten hatte die Dame ihren Fächer zuklappen lassen, war aufgestanden und mit grazilen Schritten auf ihn zugekommen. Dann hatte sie ihn mit flinken Fingern seiner Kleidung entledigt.
«Michiko …», flüsterte er in die Gegenwart hinein. André erinnerte sich noch genau an ihre Phantasie und ihre sanften, geheimnisumwobenen Talente. Vor allem ihre Haltung war das reinste Wunder. Die Japanerin war eine Künstlerin der sinnlichen Freuden.
Jedes Kleidungsstück, das sie ihm auszog, wurde von ihr gefaltet und auf einen niedrigen Tisch aus Zedernholz gelegt. Sie behandelte jedes Accessoire mit ehrfürchtiger Eleganz. Sein steifer Kragen diente als Umrahmung seiner silbernen Kragenknöpfe, und die Manschettenknöpfe wurden jeweils neben dem Kragen positioniert. Zunächst schien es dem Grafen fast, als würde Michiko sich mehr um seine Kleidung als um das Verwöhnen seines Körpers kümmern, doch das sollte sich bald als Irrtum herausstellen.
«Entspannt Euch, Mylord», hatte sie geflüstert, als er endlich nackt vor ihr stand. «Ich bin hier, um Euch zu dienen und Eurem hungrigen Fleisch Erlösung zu verschaffen.»
Obwohl André schon hundert Jahre Erfahrung mit Frauen hatte, machte ihn die Gegenwart dieses klugen, exotischen Wesens doch recht nervös. Er fühlte sich benachteiligt. Zwar war auch ihm ein übermäßig langes Leben vorherbestimmt, doch die magischen Kräfte der Frau waren eindeutig größer als die seinen. Michikos Schönheit verdammte ihn zu ihrem Sklaven – etwas, das er seit der Verführung durch Isidora nicht mehr erlebt hatte.
Ihr ovales Gesicht war im klassischen Geisha-Stil kalkweiß geschminkt. Doch das schwere Make-up wirkte in keiner Weise maskenhaft. Im Gegenteil. Es schien die
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