Das Schloss der tausend Sünden
wieso betrachtete er sich als unglückselig? Belinda hatte noch nie über die Aussicht auf ein so langes oder gar endloses Leben nachgedacht. Zwar hatte sie schon oft genug in Horrorgeschichten darüber gelesen, aber erst jetzt, in der allgegenwärtigen, parfümierten Präsenz eines zweihundertjährigen Mannes, wurde ihr die Tragweite eines solchen Schicksals wirklich bewusst.
Diese vielen Jahre! Ob er sich überhaupt an alles erinnerte? An jeden Ort, an dem er je gelebt hatte? An jeden Menschen, den er je kennengelernt hatte? An jede Frau oder jedes Mädchen, das er je geliebt hatte? Wenn sexuelle Freuden die Hauptquelle seiner Stärkung waren, musste es über die Jahrzehnte doch eine ganze Menge davon gegeben haben.
Als Belinda sich streckte, merkte sie auf einmal, dass sie ein Nachthemd trug. Eine viktorianische Angelegenheit, die sie sicher zugeknöpft vom Hals bis zu den Knöcheln bedeckte und lange Ärmel mit gerüschten Manschetten hatte.
«Hast du mir das angezogen?», fragte sie in Richtung des Porträts über dem Bett, auf dem André in Kleidung aus dem 18. Jahrhundert abgebildet war. Es war zur Zeit seiner geheimnisvollen Verwandlung angefertigt worden. «So muss es wohl gewesen sein … Aber ich schwöre, dass ich mich überhaupt nicht daran erinnere.»
Die Vorstellung, dass der Graf sich ihres reglosen Körpers bemächtigt hatte, ließ sie erschaudern. Es war eine Sache, sich der Liebe mit ihm hinzugeben und sich dabei von ihm berühren zu lassen. Aber dass er anscheinend auch in ihrem Schlaf über sie verfügte, erfüllte sie mit Angst, aber gleichzeitig auch mit Erregung.
Belinda strich mit den Fingern über die feinen Smokarbeiten und Stickereien. Sie fragte sich, ob es wohl einer früheren Geliebten von ihm gehörte. Vielleicht sogar der, die er geliebt und verloren hatte?
Es gab da noch eine weitere Frage, die sie gern gestellt hätte. Die Frau, der Belinda so ähnlich sah, die Frau, der André offensichtlich noch über alle Maßen zugetan war – hatte er sie vor seiner Verwandlung kennengelernt oder erst danach?
Doch das größte Rätsel blieb immer noch sein seltsamer Widerwille, in sie einzudringen. Als er all ihre Sinne zum Leben erweckt und ihr Verlangen angestachelt hatte, schien es für Belinda nichts Erfüllenderes zu geben als die Vereinigung ihrer Körper. Es kam ihr einfach unnatürlich vor, diesen Akt nicht zu vollziehen.
Sie nahm an, dass hierin der Schlüssel zu dem eigentlichen Mysterium verborgen lag. Nichts an André von Kastel war natürlich. Oder normal. Oder gewöhnlich. Es hatte offenbar einen ganz bestimmten Grund, weshalb er nicht in sie eingedrungen war. Einen vielleicht lebenswichtigen Grund. Doch sie konnte unmöglich sagen, ob dieser Grund für ihn wichtig war oder für sie selbst.
Was für eine Schande, befand die junge Frau, als sie daran dachte, wie sich die erigierte Erhabenheit seines Schwanzes an ihr gerieben hatte. Seine sexuelle Anatomie war eindeutig in Ordnung, und es gab zumindest kein körperliches Hindernis für die Penetration, nach der sie sich so gesehnthatte. Und immer noch sehnte, fügte sie ihn Gedanken betrübt hinzu. Käme André in diesem Moment zu ihr, sie wäre bereit.
Plötzlich, als würde ihren Gedanken eine Tat folgen, klopfte es an der Tür.
«Herein!», rief Belinda mit rasendem Herzen und zuckendem Fleisch.
Doch es handelte sich bei ihrem Besucher lediglich um Jonathan. Ihrer Frustration folgte ein sofortiges Schuldgefühl. Er sah gut und erholt aus. Eigentlich hätte sie sich freuen müssen, ihn zu sehen, und nicht enttäuscht sein dürfen, dass es kein anderer war.
«Hey du! Wie fühlst du dich?» Um es wiedergutzumachen, sprang sie aus dem Bett, lief auf ihn zu und umarmte ihn. «Du warst gestern Abend ja völlig weggetreten. Ich war in deinem Zimmer, um nach dir zu sehen. Aber du hast geschlafen wie ein Baby.» Sie schlang die Arme um ihn und genoss das sichere, bekannte Gefühl und den warmen Körper unter seinem T-Shirt und den Shorts. «Ich wollte gerade aufstehen und nachsehen, ob du wohl schon wach bist.»
Jonathan revanchierte sich mit einer ungewohnt herzlichen Umarmung und einem kurzen, harten Kuss. «Jetzt geht’s mir besser. Ich muss wohl müder gewesen sein, als ich dachte. Das muss schon seltsam ausgesehen haben – ich bin plötzlich irgendwie umgefallen, und dieser riesige Kerl hat mich einfach wie eine Puppe hochgehoben …» Er zitterte in ihren Armen, einen merkwürdigen Ausdruck auf seinem
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