Das Schloss in Frankreich
nicht Freunde sein?«
Er hielt ihren Blick fest, so lange, tief und intensiv, dass sie meinte, er hätte ihre Seele erkannt. »Nein, Shirley, ich fürchte, wir werden niemals nur Freunde sein.«
Sie beobachtete, wie er groß und geschmeidig davonging, der Spaniel dicht hinter ihm.
Eine Stunde später versammelten sich Shirley, ihre Großmutter und Christophe beim Frühstück. Die Gräfin fragte sie, wie sie die Nacht verbracht hätte. Die Unterhaltung verlief korrekt, jedoch völlig belanglos, und Shirley glaubte, dass die alte Dame die Spannung des letzten Abends wieder ausgleichen wollte. Vielleicht ist es unangebracht, sich über Frühstücksbrötchen zu ereifern, dachte Shirley. Wie zivilisiert wir uns doch benehmen. Sie unterdrückte ein ironisches Lächeln und stellte sich auf die Verhaltensweise ihrer Tischnachbarn ein.
»Sie haben sicher den Wunsch, das Schloss zu besichtigen, nicht wahr?« Die Gräfin setzte das Sahnekännchen ab, und ihre gepflegt manikürte Hand rührte den Kaffee um.
»Ja, Madame, mit Vergnügen.« Shirley lächelte erwartungsvoll. »Später würde ich gern die Außenansicht zeichnen, aber zunächst möchte ich einmal die Räume kennen lernen.«
»Aber natürlich. Christophe«, wandte sie sich an den braun gebrannten Mann, der nachlässig seinen Kaffee trank, »wir sollten Shirley heute Morgen durch das Schloss führen.«
»Nichts lieber als das, Großmutter.« Er stellte seine Tasse auf den Porzellanuntersatz zurück. »Nur bin ich leider heute Morgen nicht abkömmlich. Wir erwarten den importierten Bullen, und ich muss seinen Transport beaufsichtigen.«
»Ach, immer dieses Zuchtvieh«, seufzte die Gräfin und hob die Schultern. »Du mühst dich viel zu sehr damit ab.«
Es war die erste spontane Bemerkung überhaupt, und Shirley griff sie automatisch auf. »Züchten Sie demnach Vieh?«
»Ja«, bestätigte Christophe und nickte ihr zu. »Viehzucht ist die Hauptaufgabe des Landguts.«
»Tatsächlich?« entgegnete sie mit gespielter Überraschung. »Es ist schwer vorstellbar, dass die Kergallens sich mit derart irdischen Dingen abplagen. Ich habe geglaubt, dass sie sich nur in ihre Sessel zurücklehnen und ihre Dienstboten zählen.«
Er verzog etwas die Lippen und nickte leicht. »Das geschieht einmal im Monat. Dienstboten neigen zu verheerender Fruchtbarkeit.«
Sie lachte ihn an. Als Antwort lächelte er ihr kurz zu. Diese schnelle Reaktion löste ein warnendes Signal bei ihr aus, und sie beugte sich über ihren Kaffee.
Schließlich war es die Gräfin, die Shirley bei der Besichtigung des lang gestreckten Schlosses begleitete. Dabei ließ sie es sich nicht nehmen, geschichtliche Einzelheiten über die beeindruckenden Räume zu erzählen.
Das Schloss war im späten siebzehnten Jahrhundert erbaut worden. Trotz seiner dreihundertjährigen Vergangenheit galt es nach bretonischem Maßstab nicht als alt. Das Schloss und die dazugehörigen Ländereien waren von Generation zu Generation auf den ältesten Sohn übergegangen. Obwohl einige Modernisierungen vorgenommen wurden, blieb es im Grunde genommen unverändert, seit der erste Graf de Kergallen seine Braut über die Zugbrücke geleitet hatte. Für Shirley hatte das Schloss seinen zeitlosen Zauber bewahrt, und die unmittelbare Zuneigung und Begeisterung, die sie beim ersten Anblick empfunden hatte, wuchsen nur noch bei der näheren Betrachtung.
In der Porträtgalerie begegnete ihr zwischen den jahrhundertealten Gemälden Christophes dunkel faszinierendes Abbild. Trotz des Wandels von Generation zu Generation war der Stolz erhalten geblieben, die aristokratische Haltung und der schwer fassbare geheimnisvolle Ausdruck. Da war ein Vorfahr aus dem achtzehnten Jahrhundert, dessen Ähnlichkeit mit Christophe so verblüffend war, dass sie etwas näher trat, um ihn eingehender zu betrachten.
»Interessieren Sie sich für Claude, Shirley?« Die Gräfin folgte ihrem Blick. »Christophe ähnelt ihm sehr, nicht wahr?«
»Ja, es ist bemerkenswert.« Die Augen waren ihrer Ansicht nach viel zu selbstsicher und lebendig, und falls sie sich nicht täuschte, hatte sein Mund viele Frauen gekannt.
»Man sagt, er sei ein wenig unzivilisiert gewesen«, meinte sie leicht bewundernd. »Zum Zeitvertreib soll er geschmuggelt haben. Er war ein Seemann. Außerdem soll er sich, als er einmal in England war, in eine dort ansässige Dame verliebt haben. Zu ungeduldig, um ihr formell und altmodisch den Hof zu machen, entführte er sie und brachte sie hierher
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