Das Schloss in Frankreich
»Wenn es Ihnen recht ist, werden wir so lange nicht mehr von der Vergangenheit sprechen, bis wir uns besser kennen.«
»Einverstanden, Madame.« Shirley empfand, dass sowohl die Bitte als auch die Entschuldigung als so genannter Ölzweig des Friedens gelten sollte.
»Sie haben ein weiches Herz, verbunden mit einem stark ausgeprägten Verstand.« Die Stimme der Gräfin klang anerkennend. »Das ist eine gute Verbindung. Aber außerdem haben Sie ein überschäumendes Temperament, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Christophe neigt ebenfalls zu plötzlichen Temperamentsausbrüchen und tiefen Verstimmungen.« Überraschend wechselte die Gräfin das Thema. »Er ist stark und eigensinnig. Was er braucht, ist eine Frau, die ebenso stark ist wie er, darüber hinaus jedoch ein weiches Herz hat.«
Shirley nahm die doppelsinnige Feststellung verwirrt zur Kenntnis. »Eine solche Frau wünsche ich ihm«, begann sie. Doch dann verengten sich ihre Augen, und ein leiser Zweifel beschlich sie. »Madame, was haben Christophes Bedürfnisse mit mir zu tun?«
»Er hat ein Alter erreicht, in dem ein Mann eine Frau braucht. Und Sie haben bereits das Alter überschritten, in dem die meisten bretonischen Frauen wohlverheiratet sind und eine Familie heranziehen.«
»Ich bin doch nur Halbbretonin«, verteidigte sie sich. »Sie glauben doch nicht etwa, dass Christophe und ich ...? Ach nein, das wäre allzu komisch.« Sie lachte auf, und der volle warme Ton hallte in dem leeren Raum wider. »Madame, es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber der Graf macht sich nichts aus mir. Von Beginn an mochte er mich nicht, und ich muss Ihnen gestehen, dass er mir auch nicht besonders liegt.«
»Was hat das damit zu tun?« Die Gräfin wischte mit einer knappen Handbewegung die Worte fort.
Shirley hörte auf zu lachen und schüttelte ungläubig den Kopf, zumal ihr ein Verdacht kam. »Haben Sie schon mit ihm darüber gesprochen?«
»So ist es«, sagte die Gräfin leichthin.
Shirley schloss die Augen, überwältigt von Demütigung und Zorn. »Kein Wunder, dass er mich auf Anhieb nicht leiden konnte. Ihr Ansinnen und seine Meinung über meinen Vater sind ein zu krasser Gegensatz.« Sie wandte sich von ihrer Großmutter ab, drehte sich dann aber doch wieder um. In ihren Augen blitzte Empörung. »Sie überschreiten Ihre Grenzen, Gräfin. Die Zeiten, als Ehen noch abgesprochen wurden, sind längst vorbei.«
»Sie Kindskopf. Christophe ist viel zu selbstständig, um sich etwas diktieren zu lassen, und das Gleiche trifft auf Sie zu. Aber« -- ein verhaltenes Lächeln huschte über das kantige Gesicht -- »Sie sind sehr schön, und Christophe ist ein attraktiver, ansehnlicher Mann. Vielleicht wird die Natur -- oder wie nennt man das? -- ihren Lauf nehmen.«
Shirley blickte in das ruhige, unergründliche Gesicht.
»Kommen Sie.« Die Gräfin eilte zur Tür. »Es gibt noch viel zu sehen.«
4. K APITEL
Der Nachmittag war warm, und Shirley brütete vor sich hin. Die Empörung über ihre Großmutter schlug jetzt auf Christophe über, und je mehr sie darüber nachdachte, desto zorniger wurde sie.
Ein unerträglicher, eingebildeter Aristokrat, fauchte sie. Ihr Bleistift ging schnell und sicher über den Block, als sie die Wachtürme zeichnete. Ich würde lieber den Hunnenkönig Attila heiraten, als mich auf diesen eigensinnigen Menschen einzulassen. Madame, meine Großmutter, stellte sich wahrscheinlich Dutzende von kleinen Grafen und Gräfinnen vor, die artig im Hof miteinander spielten und aufwuchsen, um die herrschaftliche Linie in bestem bretonischen Stil fortzusetzen.
Was für ein bezaubernder Ort, um Kinder großzuziehen, dachte sie plötzlich und ließ den Zeichenstift ruhen. Dabei wurden ihre Augen weicher. Er ist so sauber, ruhig und wunderschön. Sie hörte einen tiefen Seufzer und blickte auf. Als sie bemerkte, dass sie ihn selbst ausgestoßen hatte, runzelte sie ärgerlich die Stirn. Gräfin Shirley de Kergallen, sagte sie leise, das fehlt mir gerade noch.
Sie nahm eine Bewegung wahr, drehte sich um und sah, wie Christophe sich im Gegenlicht näherte. Er überquerte den Rasen mit langen, selbstsicheren Schritten, im spielerischen Rhythmus von Gliedern und Muskeln. Er geht so, als gehörte ihm die Welt, dachte sie halb bewundernd, halb verstimmt. Als er ihr gegenüberstand, trug die Verstimmung den Sieg davon.
»Was suchen Sie hier?« fuhr sie ihn unvermittelt an. Sie erhob sich von dem weichen Grasbüschel und stellte sich wie ein
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