Das Schloss in Frankreich
Zimmer um, ehe sie begriff, wo sie sich befand. Sie setzte sich auf und lauschte. Die Stille wurde nur gelegentlich von einem Vogelzwitschern unterbrochen. Sie stand in völligem Gegensatz zu dem geschäftigen, pulsierenden Leben der Stadt, das Shirley nur zu gut kannte, und sie genoss sie.
Die kleine verzierte Uhr auf dem Kirschholzschreibtisch zeigte an, dass es noch nicht sechs geschlagen hatte. Deshalb lehnte Shirley sich wieder in die luxuriösen Kissen und Laken zurück und schwelgte in träumerischen Gedanken. Aufgewühlt von den Vermutungen und Anschuldigungen ihrer Großmutter, hatte die lange Reise sie dennoch so erschöpft, dass sie sofort fest eingeschlafen war, ausgerechnet in dem Bett, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Jetzt schaute sie zur Decke hinauf und ließ die Geschehnisse des vergangenen Abends noch einmal an sich vorüberziehen.
Die Gräfin war verbittert. Die Tünche äußerer Gelassenheit konnte die Bitterkeit oder -- wie Shirley vermutete -- den Schmerz nicht verbergen. Diesen Schmerz hatte sie trotz ihres Zorns wahrgenommen. Obwohl die Gräfin ihre Tochter verbannt hatte, bewahrte sie ihr Porträt auf. Vielleicht offenbarte dieser Widerspruch, dass ihr Herz doch nicht so hart war wie ihr Stolz. Auch das Zimmer ihrer Tochter hatte sie in seinem ursprünglichen Zustand belassen.
Christophes Verhaltensweise hingegen entflammte erneut ihren Ärger. Es schien, als behandelte er sie wie ein voreingenommener Richter, der sein Urteil ohne Verhör fällte. Gut, beschloss sie, ich habe auch meinen Stolz, und ich werde mich nicht ducken und unterwerfen, wenn der Name meines Vaters in den Schmutz gezogen wird. Ich beherrsche dieses Spiel kalter Höflichkeit ebenso gut. Ich werde nicht nach Hause kriechen wie ein verletztes Hündchen, sondern einfach hier bleiben.
Sie verfolgte das strahlende Sonnenlicht und atmete tief auf. »Das ist ein neuer Tag, Mutter«, sagte sie laut. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging zum Fenster hinüber. Der Garten unter ihr breitete sich aus wie ein kostbares Geschenk. »Ich werde einen Spaziergang in deinem Garten machen, Mutter, und danach werde ich dein Haus skizzieren.« Sie zog sich ihren Morgenmantel über und seufzte. »Vielleicht werden die Gräfin und ich dann besser miteinander auskommen.«
Sie wusch sich schnell und zog ein pastellfarbenes Sommerkleid an, das die Arme und Schultern freiließ. Alles war ruhig im Schloss, als sie in die Halle hinunterging und in die Wärme des Sommermorgens hinaustrat.
Seltsam, überlegte sie und schlug einen großen Bogen. Kein anderes Gebäude weit und breit, weder Autos noch Menschen. Die Luft war frisch und duftete mild. Sie sog sie tief atmend ein und ging in den Garten.
Bei näherer Betrachtung bot er noch mehr Überraschungen als von ihrem Schlafzimmerfenster aus. Üppige Blüten leuchteten in unglaublicher Farbenpracht, die Düfte mischten und verschmolzen sich exotisch, durchdringend und süß zugleich. Viele Pfade führten an den wohlgepflegten Blumenrabatten vorbei, glänzende Bodenfliesen spiegelten die Morgensonne wider und hielten sie auf ihrer gleißenden Oberfläche fest. Sie wählte einen Pfad nach ihrem Geschmack und verfolgte ihn langsam und zufrieden. Sie genoss die Einsamkeit. Ihre künstlerische Mentalität schwelgte in den überwältigenden Farben und Formen.
»Guten Tag, Mademoiselle.« Eine tiefe Stimme unterbrach die Lautlosigkeit, und Shirley drehte sich um, aufgeschreckt in ihren einsamen Betrachtungen. Christophe kam langsam näher, groß und hager, und seine Bewegungen erinnerten sie an einen arroganten russischen Tänzer, der ihr einmal auf einer Party in Washington begegnet war. Graziös, selbstbewusst und sehr männlich.
»Guten Tag, Graf.« Sie ließ sich nicht zu einem Lächeln herab, begrüßte ihn jedoch mit zurückhaltender Freundlichkeit. Salopp trug er ein lederfarbenes Hemd und geschmeidige braune Jeans.
Er begab sich an ihre Seite und sah sie mit dem gewohnten durchdringenden Blick an. »Sie scheinen eine Frühaufsteherin zu sein. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«
»Sehr gut, danke«, erwiderte sie, aufgebracht darüber, dass sie nicht allein gegen Abneigung anzukämpfen hatte, sondern auch gegen eine seltsame Zuneigung. »Ihre Gärten sind wunderschön und verlockend.«
»Ich habe eine Schwäche für alles, was schön und verlockend ist.« Er heftete seine Augen direkt auf sie, bis sie atemlos den Blick von ihm abwandte.
»Oh, hallo.« Sie hatten sich französisch
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