Das Schloss in Frankreich
Dass ich hier bleiben und die Unschuld meines Vaters nachweisen muss?«
Tränen rollten über Shirleys weiche Wangen, und sie schämte sich ihrer Schwäche wegen. »Es tut mir nur Leid, dass ich nicht noch härter zugeschlagen habe. Was hätten Sie denn getan, wenn Sie beschuldigt würden, wie ein Erpresser Geld angenommen zu haben?«
Er beobachtete, wie eine Träne über ihre samtige Haut rann, und lächelte leicht. »Ich hätte den Kerl geprügelt, aber ich glaube, dass Ihre Tränen eine wirkungsvollere Strafe sind als eine geballte Faust.«
»Ich benutze Tränen nicht als Waffe.« Sie wischte sie mit dem Handrücken fort und wünschte sehnlichst, sie könnte ihnen Einhalt gebieten.
»Gerade deswegen sind sie umso beeindruckender.« Mit dem Finger entfernte er vorsichtig einen Tropfen aus ihrem Elfenbeingesicht. Der Farbkontrast zwischen seiner Hand und ihrer Haut verlieh ihr ein empfindsames, verletzliches Aussehen. Schnell zog er die Hand fort und verfiel in einen beiläufigen Tonfall. »Meine Worte waren ungerecht, und deswegen bitte ich Sie um Verzeihung. Wir beide haben unsere Strafe erhalten, und so sind wir mittlerweile -- wie drücken Sie es doch aus? -- quitt.«
Er bedachte sie mit seinem seltenen charmanten Lächeln. Sie war hingerissen davon, weil es sein Gesicht so vorteilhaft veränderte. Sie lächelte ihm ebenfalls zu, und es war, als durchbräche ein plötzlicher Sonnenstrahl den Regenschleier. Er gab einen kleinen ungeduldigen Laut von sich, als bereute er den Zwischenfall, nickte leicht, wandte sich um und schlenderte fort. Shirley sah ihm nach.
Während des Abendessens verlief die Unterhaltung erneut äußerst förmlich, als hätten die erstaunliche Auseinandersetzung und die stürmische Begegnung auf dem Schlossgelände überhaupt nicht stattgefunden. Shirley wunderte sich über das Verhalten ihrer Tischnachbarn, als sie sich in aller Gemütsruhe über die Langusten in Cremesauce unterhielten. Sie spürte noch den Druck von Christophes Lippen auf ihrem Mund. Andernfalls hätte sie geglaubt, ihrer Einbildungskraft erlegen zu sein. Es war ein atemberaubender Kuss gewesen, der den Wunsch nach Erwiderung auslöste und ihre kühle Zurückhaltung weit mehr aufwühlte, als sie sich eingestand. Es hat alles nichts zu bedeuten, versuchte sie sich einzureden und widmete sich eingehend der delikaten Languste auf ihrem Teller. Sie war schon vorher geküsst worden und würde auch weiterhin geküsst werden. Keinesfalls würde sie einem launischen Tyrannen erlauben, sich auf diese Art mit ihr zu beschäftigen. Sie entschied sich, in dem Spiel der Förmlichkeit um sie herum eine ebenbürtige Rolle zu spielen, nippte an ihrem Glas und lobte den Wein.
»Schmeckt er Ihnen?« Christophe fiel in ihren unbekümmerten Ton ein. »Es ist der schlosseigene Muscadet. Jedes Jahr produzieren wir eine kleine Menge zu unserem eigenen Vergnügen und für die unmittelbare Nachbarschaft.«
»Er schmeckt köstlich«, erwiderte Shirley. »Wie aufregend, Wein von Ihren eigenen Reben zu genießen. So etwas Erlesenes habe ich noch nie getrunken.«
»Der Muscadet ist der einzige Wein der Bretagne«, schaltete die Gräfin sich ein. »Wir sind vorwiegend eine Provinz der Meeresfrüchte und Spitzen.«
Shirley strich mit einem Finger über das schneeweiße Tuch, das den Eichentisch zierte. »Bretonische Spitze. Ich finde sie hinreißend. Sie sieht so zart aus und wird mit den Jahren immer schöner.«
»Wie eine Frau«, sagte Christophe leise.
»Aber darüber hinaus gibt es auch noch die Viehzucht.« Shirley haschte nach diesem Thema, um ihre momentane Verwirrung zu verbergen.
»Ach, die Viehzucht.« Seine Lippen zuckten ein wenig, und Shirley hatte den unangenehmen Eindruck, dass er sich seiner Wirkung auf sie vollauf bewusst war.
»Da ich von Jugend auf in der Stadt gelebt habe, weiß ich natürlich nicht Bescheid darüber.« Sie stockte ein wenig, weil seine Augen sie aus der Fassung brachten. »Ich bin überzeugt, dass die Tiere sehr malerisch wirken, wenn sie auf den Feldern grasen.«
»Sie müssen die bretonische Landschaft unbedingt kennen lernen«, unterbrach die Gräfin. »Wollen Sie vielleicht morgen einen Ausflug machen und die Ländereien besichtigen?«
»Das würde mir großes Vergnügen bereiten, Madame. Es wäre eine angenehme Abwechslung von den Bürgersteigen und Regierungsgebäuden.«
»Ich würde Sie gern begleiten, Shirley.« Christophes Angebot überraschte sie. Als sie sich ihm wieder zu-
wandte,
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