Das Schloss in Frankreich
war kurz und formell: keine liebevolle Umarmung, kein Willkommenslächeln. Sie verbarg ihre Enttäuschung und entgegnete ebenso zurückhaltend: »Danke, Madame. Ich freue mich, hier zu sein.«
»Sie sind sicherlich erschöpft nach Ihrer Reise. Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Wahrscheinlich möchten Sie sich ausruhen, ehe Sie sich zum Abendessen umkleiden.«
Shirley folgte ihr eine breite, geschwungene Treppe hinauf. Auf dem Absatz blickte sie sich nach Christophe um, der sie beobachtete. Er dachte überhaupt nicht daran, den Blick von ihr abzuwenden. Shirley drehte sich schnell um und eilte der Gräfin hinterher.
Sie gingen einen langen, engen Flur hinunter. Messingleuchter waren in regelmäßigen Abständen in die Wände eingelassen, anstelle von ehemaligen Fackeln, vermutete Shirley. Als die Gräfin vor einer Tür anhielt, sah sie sich noch einmal um, nickte kurz, öffnete die Tür und bat Shirley, einzutreten.
Das Zimmer war weiträumig, doch trotzdem anheimelnd. Die Kirschholzmöbel glänzten. Ein Himmelbett dominierte in diesem Raum, der seidene Überwurf erzählte eine lange Geschichte von Zeit raubenden Nadelstichen. Ein steinerner Kamin befand sich dem Bett gegenüber. Sein dekorativ ziseliertes Sims war mit Dresdner Porzellanfiguren verziert, die der große gerahmte Spiegel darüber zurückwarf. Das Ende des Raums war gerundet und verglast. Ein gepolsterter Sessel am Fenster lud zu einer Ruhepause und zu einem Blick auf die atemberaubende Aussicht ein.
Shirley war von diesem Zimmer und seiner besonderen Atmosphäre fasziniert. »Es gehörte meiner Mutter, nicht wahr?«
Wiederum leuchteten die Augen der Gräfin kurz auf, wie eine verlöschende Kerze. »Ja. Gabrielle richtete es ein, als sie eben erst sechzehn Jahre alt war.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie es mir überlassen haben, Madame.« Selbst die kühle Antwort beeinträchtigte nicht die Wärme des Raums. Shirley lächelte: »Ich werde meiner Mutter während meines Aufenthalts hier sehr nahe sein.«
Die Gräfin nickte nur und drückte einen kleinen Knopf
in der Nähe des Bettes. »Catherine wird Ihnen das Bad bereiten. Ihre Koffer werden bald ankommen, und dann wird sie sich um das Auspacken kümmern. Wir speisen um acht Uhr, es sei denn, Sie wollen jetzt eine kleine Erfrischung zu sich nehmen.«
»Nein, danke, Gräfin«, erwiderte Shirley und fühlte sich wie ein Logiergast in einem sehr gut geführten Hotel. »Acht Uhr ist gerade recht.«
Die Gräfin wandte sich zur Tür. »Catherine wird Ihnen den Salon zeigen, sobald Sie sich etwas ausgeruht haben. Um halb acht werden Cocktails serviert. Wenn Sie etwas benötigen, brauchen Sie nur zu läuten.«
Nachdem die Tür sich hinter der Gräfin geschlossen hatte, atmete Shirley tief ein und ließ sich auf das Bett fallen.
Warum bin ich nur hierher gekommen? Sie schloss die Augen und fühlte sich plötzlich sehr einsam. Ich hätte in Georgetown bleiben sollen, bei Tony, in der vertrauten Umgebung. Was suche ich eigentlich hier? Sie seufzte tief auf, kämpfte gegen die aufkeimende Niedergeschlagenheit an und sah sich erneut in dem Raum um. Das Zimmer meiner Mutter, erinnerte sie sich und glaubte, ihre besänftigenden Hände zu spüren. Wenigstens dies hier begreife ich.
Shirley trat ans Fenster und beobachtete, wie sich der Tag im Zwielicht auflöste. Die Sonne blitzte ein letztes Mal auf, ehe sie unterging. Eine Brise bewegte die Luft und vereinzelte Wolken, die träge über den dunkelnden Himmel zogen.
Ein Schloss auf einem Hügel in der Bretagne. Bei dem Gedanken daran schüttelte sie den Kopf, kniete sich auf den Fenstersessel und beobachtete den Anbruch des Abends. Wie passte Shirley Smith hierher? Wo war ihr Platz? Sie zog die Stirn kraus über die plötzliche Erkenntnis: Irgendwie gehöre ich hierher, zumindest ein Teil von mir. Ich fühlte es in dem Augenblick, als ich die überwältigenden Steinmauern sah, und dann wieder in der Eingangshalle. Sie unterdrückte ihre Gefühle und dachte über ihre Großmutter nach.
Sie war nicht gerade angetan von der Begegnung, entschied Shirley kläglich. Oder vielleicht beruhte ihr kaltes, distanziertes Verhalten nur auf europäischer Förmlichkeit. Vermutlich hätte sie mich nicht eingeladen, wenn sie mich nicht auch wirklich kennen lernen wollte. Wahrscheinlich erwartete ich mehr, weil ich mir etwas anderes vorgestellt hatte. Geduld war noch nie meine Stärke, und so muss ich mich jetzt wohl dazu zwingen. Wäre die Begrüßung am Bahnhof doch nur
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