Das Schloss in Frankreich
es.
Eine hellblonde Frau mit zarter Hautfarbe schaute sie an. Das Gesicht war ihr eigenes Ebenbild. Abgesehen von der Länge des goldenen Haars, das bis auf die Schultern fiel, und den tiefblauen statt bernsteinfarbenen Augen gab das Porträt Shirley wieder: das ovale Gesicht, feinfühlig, mit geheimnisvollen Linien, der volle, geschwungene Mund und die zerbrechliche, fliehende Schönheit ihrer Mutter, in Ölfarben vor einem Vierteljahrhundert festgehalten.
Das war das Werk ihres Vaters. Shirley erkannte es sofort. Da war kein Irrtum möglich. Pinselführung und Farbgebung verrieten die individuelle Technik von Jonathan Smith so sicher wie die kleine Signatur am unteren Rand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie unterdrückte den bedrohlichen Schleier. Beim Anblick des Porträts fühlte sie einen Augenblick lang die Gegenwart ihrer Eltern, die Wärme und Zuneigung, auf die sie mittlerweile zu verzichten gelernt hatte.
Sie betrachtete das Gemälde eingehend, um sich noch mehr mit dem Werk ihres Vaters auseinander zu setzen: die Falten des perlmutthellen Gewands, die Rubine an den Ohren, ein scharfer Farbkontrast, der sich in dem Ring auf ihrem Finger wiederholte.
»Ihre Mutter war eine sehr schöne Frau«, bemerkte die Gräfin nach geraumer Zeit, und Shirley antwortete wie abwesend, noch gefangen von den Augen ihrer Mutter, die Liebe und Glück ausstrahlten.
»Das stimmt. Es ist erstaunlich, wie wenig sie sich verändert hat, seitdem mein Vater dieses Bild malte. Wie alt war sie damals?«
»Kaum zwanzig«, erwiderte die Gräfin knapp. »Sie haben die Arbeit Ihres Vaters also sofort erkannt.«
»Aber selbstverständlich.« Shirley wandte sich um und lächelte herzlich und aufrichtig. »Als seine Tochter und Kunstgefährtin erkenne ich seine Werke ebenso schnell wie seine Handschrift.«
Sie betrachtete das Porträt noch einmal und bewegte lebhaft die feingliedrige Hand. »Das Bild entstand vor fünfundzwanzig Jahren, und es erfüllt diesen Raum hier immer noch mit Wärme und Leben.«
»Die Ähnlichkeit mit Ihrer Mutter ist in der Tat stark ausgeprägt«, bemerkte Christophe. Er stand dicht beim Kaminsims, nahm einen Schluck aus seinem Glas und fesselte ihre Aufmerksamkeit, als wollte er ihre Hände ergreifen. »Ich war ganz überwältigt, als Sie aus dem Zug stiegen.«
»Nur die Augen unterscheiden sich voneinander«, konstatierte die Gräfin, ehe Shirley eine passende Bemerkung einflechten konnte. »Sie hat die Augen ihres Vaters geerbt.«
Ihre Stimme klang bitter, daran bestand kein Zweifel. Shirley drehte sich zu ihr um: »Ja, Madame, ich habe die Augen meines Vaters. Macht Ihnen das etwas aus?«
Die Gräfin hob abweisend die ausdrucksvollen Schultern und nippte an ihrem Glas, ohne die Frage zu beantworten.
»Sind meine Eltern sich hier im Schloss begegnet?« Shirley bemühte sich um Geduld. »Warum sind sie fortgegangen und nie wieder zurückgekehrt? Weshalb haben sie mir nie etwas von Ihnen erzählt?« Sie blickte von ihrer Großmutter zu Christophe: in zwei kühle, ausdruckslose Gesichter. Die Gräfin hatte eine Barriere errichtet, und Shirley wusste, dass Christophe sie nicht einreißen durfte. Er würde ihr nichts von dem sagen, was sie wissen wollte. Nur die Frau könnte ihre Fragen beantworten. Sie wollte noch etwas sagen, doch eine Bewegung der ringgeschmückten Hand schnitt ihr das Wort ab.
»Darüber werden wir später sprechen.« Es klang wie eine königliche Verordnung. Die Gräfin erhob sich: »Jetzt werden wir erst einmal zu Abend essen.«
Das Speisezimmer war sehr geräumig wie alles in diesem Schloss. Steile Balken trugen die Decke wie in einer Kathedrale, und die dunkel getäfelten Wände waren von hohen Fenstern unterbrochen, eingerahmt von blutroten Samtvorhängen. Ein Kamin, so groß, dass man aufrecht darin stehen konnte, nahm eine ganze Wand ein. Angezündet muss er ein Schrecken erregender Anblick sein, dachte Shirley. Ein schwerer Leuchter erhellte den Raum. Seine Kristalle funkelten in Regenbogenfarben auf das dunkle, massive Eichenholz.
Als Vorspeise gab es eine reichhaltige Zwiebelsuppe nach bester französischer Art. Währenddessen tauschten die drei Personen Höflichkeiten aus. Shirley schaute hin und wieder Christophe an und war gegen ihren Willen von seinem stattlichen Aussehen beeindruckt.
Er kann mich einfach nicht leiden, entschied sie nachdenklich. Er mochte mich schon nicht, als er mich auf der Bahnstation sah. Warum nur? Resigniert widmete sie ihre
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