Das Schloss in Frankreich
wir Cousin und Cousine sind?« Sie fragte sich, wie sie ihn nennen sollte. Monsieur? Christophe?
»Ihr Großvater, der Gatte der Gräfin, starb, als Ihre Mutter noch ein Kind war.« Sein Ton klang so höflich und leicht gelangweilt, dass sie ihm am liebsten geraten hätte, sich nur ja nicht zu überanstrengen. »Einige Jahre später heiratete die Gräfin meinen Großvater, den Grafen de Kergallen, dessen Frau gestorben war und ihm einen Sohn hinterlassen hatte. Das war mein Vater.« Er wandte den Kopf und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ihre Mutter und mein Vater wuchsen wie Geschwister im Schloss auf. Als mein Großvater starb, heiratete mein Vater, erlebte noch meine Geburt und kam dann bei einem Jagdunfall ums Leben. Meine Mutter grämte sich drei Jahre lang um ihn, bis auch sie starb.«
Seine Erzählung klang so unbeteiligt, dass Shirley nur wenig Mitgefühl für das früh verwaiste Kind empfand. Sie beobachtete erneut sein falkenähnliches Profil.
»Somit wären Sie der derzeitige Graf de Kergallen und mein angeheirateter Cousin.«
Wiederum ein kurzer nachlässiger Blick: »So ist es.«
»Diese beiden Tatsachen beeindrucken mich maßlos«, erwiderte sie sarkastisch.
Seine Braue hob sich erneut, als er Shirley anschaute, und einen Moment lang glaubte sie, dass seine kühlen dunklen Augen lachten. Doch dann verwarf sie den Gedanken, weil dieser Mann neben ihr bestimmt niemals lachte.
»Kannten Sie meine Mutter?« fragte sie, um das Schweigen zu beenden.
»Ja. Ich war acht Jahre alt, als sie das Schloss verließ.«
»Warum ist sie fortgegangen?«
Er blickte sie klar und unnachgiebig an, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße lenkte.
»Die Gräfin wird Ihnen berichten, was sie für notwendig hält.«
»Was sie für notwendig hält?« sprudelte Shirley hervor, verärgert über die Zurechtweisung. »Damit wir uns recht verstehen, Cousin: Ich beabsichtige, herauszufinden, warum meine Mutter die Bretagne verließ und mir zeit meines Lebens die Existenz meiner Großmutter vorenthalten hat.«
Langsam zündete Christophe sich ein Zigarillo an und ließ den Rauch gelassen ausströmen. »Ich kann Ihnen nichts weiter dazu sagen.«
»Das heißt, Sie wollen mir nichts weiter sagen.«
Er hob die breiten Schultern, und sie schaute wieder durch die Windschutzscheibe. Dabei entging ihr sein leicht amüsiertes Lächeln.
Der Graf und Shirley setzten die Fahrt überwiegend schweigsam fort. Gelegentlich erkundigte Shirley sich nach der Landschaft, durch die sie fuhren, und Christophe antwortete einsilbig, wenn auch höflich, ohne die geringste Absicht, die Konversation weiter auszudehnen. Die goldene Sonne und ein klarer Himmel genügten, um sie die Anstrengung der Reise vergessen zu lassen, aber seine Zurückhaltung forderte sie heraus.
Nachdem er sie wieder einmal mit zwei Silben beehrt hatte, bemerkte sie betont liebenswürdig: »Als bretonischer Graf sprechen Sie ein erstaunlich gutes Englisch.«
Gönnerhaft entgegnete er: »Auch die Gräfin beherrscht die englische Sprache, Mademoiselle. Die Dienstboten sprechen jedoch nur Französisch oder Bretonisch. Sollten Sie Schwierigkeiten haben, werden die Gräfin oder ich Ihnen behilflich sein.«
Shirley blickte ihn von der Seite an, hochmütig und geringschätzig. »Das ist nicht notwendig, Graf. Ich spreche fließend Französisch.«
»Bon, umso besser. Das vereinfacht Ihren Aufenthalt.«
»Ist es noch weit bis zum Schloss?« Shirley fühlte sich erhitzt, zerknittert und müde. Die endlose Reise und die Zeitverschiebung gaben ihr das Gefühl, tagelang in einem schaukelnden Fuhrwerk verbracht zu haben, und sie sehnte sich nach einer soliden Badewanne mit warm schäumendem Wasser.
»Wir befinden uns schon seit geraumer Zeit auf Kergallen, Mademoiselle. Das Schloss ist nicht mehr weit entfernt.«
Das Auto fuhr langsam auf eine Anhöhe zu. Shirley schloss die Augen wegen des drückenden Kopfwehs und wünschte sehnlichst, dass ihre mysteriöse Großmutter in einem weniger komplizierten Ort lebte, zum Beispiel in Idaho oder New Jersey. Als sie die Augen wieder öffnete, lösten sich Schmerzen und Müdigkeit wie Nebel in heißer Sonne auf.
»Halten Sie an«, rief sie und legte unwillkürlich eine Hand auf Christophes Arm.
Das Schloss stand hoch, stolz und einsam auf der Anhöhe: ein weitläufiges steinernes Gebäude aus einem früheren Jahrhundert, mit Wachtürmen, Schießscharten und einem spitz zulaufenden Ziegeldach, das sich warm und grau vom
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