Das Schloss in Frankreich
etwas zuvorkommender verlaufen. Beklommen dachte sie erneut an Christophes Benehmen.
Ich könnte schwören, dass er mich am liebsten gleich wieder mit dem Zug zurückgeschickt hätte, als er mich sah. Und dann die verletzende Unterhaltung im Wagen. Was für ein enttäuschender Mann, das Abbild eines bretonischen Grafen. Vielleicht liegt es daran, dass er mich so sehr beeindruckt
hat. Er unterscheidet sich in allem von den Männern, die ich vorher kannte: elegant und gleichzeitig vital. Seine Kultiviertheit verbirgt Kraft und Männlichkeit. Stärke, das Wort blitzte in ihren Gedanken auf, und sie zog die Brauen dichter zusammen. Ja, er ist stark und selbstbewusst, gestand sie sich widerwillig ein.
Für einen Künstler wäre er ein ideales Modell. Er interessiert mich als Malerin, redete sie sich ein, nicht als Frau. Eine Frau müsste verrückt sein, um sich gefühlsmäßig von solch einem Mann beeindrucken zu lassen. Völlig von Sinnen, bestärkte sie sich innerlich.
2. K APITEL
Der goldgerahmte frei stehende Spiegel reflektierte Shirleys Ebenbild: eine schlanke blonde Frau. Das fließende, hochgeschlossene Gewand aus altrosa Seide ließ Arme und Schultern frei und unterstrich die zarte Hautfarbe. Shirley betrachtete ihre Bernsteinaugen und seufzte auf. Gleich musste sie hinuntergehen, um erneut ihrer Großmutter und ihrem Cousin zu begegnen: der aristokratisch zurückhaltenden Gräfin und dem förmlichen, merkwürdig feindseligen Grafen.
Ihre Koffer waren angekommen, während sie das Bad genoss, das das dunkelhaarige bretonische Zimmermädchen eingelassen hatte. Catherine packte die Kleider aus, zunächst etwas scheu, doch dann hell begeistert über die schönen Sachen. Sie brachte sie in dem breiten Kleiderschrank und in einer antiken Kommode unter. Ihr natürliches, freundliches Wesen unterschied sich auffällig von den Umgangsformen ihrer Herrschaft.
Shirleys Versuch, sich in den kühlen Leinenlaken des großen Himmelbetts auszuruhen, scheiterte an ihrer inneren Unruhe. Die seltsame Vertrautheit des Schlosses, der steife, formelle Empfang der Großmutter und die Anziehungskraft des abweisenden Grafen machten sie nervös und unsicher. Hätte sie sich doch nur von Tony überzeugen lassen, dann wäre sie in der vertrauten Umgebung geblieben.
Sie atmete tief, reckte die Schultern und hob das Kinn. Schließlich war sie kein naives Schulmädchen mehr, das sich von Schlössern und übertriebenen Förmlichkeiten einschüchtern ließ. Sie war Shirley Smith, die Tochter von Jonathan und Gabrielle Smith, und sie würde den Kopf hochhalten und es mit Grafen und Gräfinnen aufnehmen.
Catherine klopfte leise an die Tür, und Shirley folgte ihr in gespieltem Selbstvertrauen den langen Gang entlang und die gewundene Treppe hinunter.
»Guten Abend, Mademoiselle Smith.« Christophe begrüßte sie am Fuß der Treppe mit der gewohnten Förmlichkeit. Catherine zog sich schnell und bescheiden zurück.
»Guten Abend, Graf«, erwiderte Shirley ebenso unpersönlich, als sie sich erneut gegenüberstanden.
Der schwarze Abendanzug verlieh seinen adlerhaften Zü-
gen ein geheimnisvolles Aussehen. Die dunklen Augen leuchteten beinahe pechschwarz, und die bronzefarbene Haut
hob sich glänzend von dem schwarzen Stoff und dem blen-
dend weißen Hemd ab. Sollte er von Piraten abstammen, dann hatten sie jedenfalls viel Geschmack besessen und mussten
bei ihren seeräuberischen Unternehmungen über die Maßen erfolgreich gewesen sein, vermutete Shirley, als er sie lange ansah.
»Die Gräfin erwartet uns im Salon.« Unerwartet charmant bot er ihr den Arm.
Die Gräfin beobachtete sie, als sie das Zimmer betraten: den hoch gewachsenen stolzen Mann und die schlanke goldhaarige Frau an seiner Seite. Ein auffallend schönes Paar, überlegte sie. Jedermann würde sich nach ihnen umdrehen. »Guten Abend, Shirley und Christophe.« Sie trug ein königliches saphirblaues Gewand und ein funkelndes Diamantkollier. »Meinen Aperitif, bitte, Christophe. Und was trinken Sie, Shirley?«
»Wermut, wenn ich bitten darf, Madame«, lächelte sie verbindlich.
»Ich hoffe, Sie haben sich gut ausgeruht«, bemerkte die Gräfin, als Christophe ihr das kleine Kristallglas reichte.
»Wirklich sehr gut, Madame.« Sie wandte sich ein wenig ab, um den Dessertwein entgegenzunehmen. »Ich ...« Sie verschluckte die geistlosen Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, weil ihr Blick von einem Porträt gefesselt wurde. Sie drehte sich vollends um und betrachtete
Weitere Kostenlose Bücher