Das Schloss in Frankreich
Hand, und so war ich gezwungen, den Ballast mit der einzigen Person zu teilen, die ich schonen wollte.
In der Abgeschlossenheit des Turmzimmers fand ich in diesen Minuten heraus, dass die Frau, die ich liebte, über mehr Kraft verfügte als die meisten Männer. Um jeden Preis wollte sie ihrer Mutter die Wahrheit verbergen. Unbedingt wollte sie der Gräfin eine Demütigung ersparen und die Tatsache verheimlichen, dass das von ihr so geschätzte Gemälde lediglich eine Fälschung war.
Wir sannen über einen Plan nach, das Bild zu verstecken und den Anschein zu erwecken, als ob es gestohlen worden wäre. Vielleicht begingen wir einen Fehler. Bis heute weiß ich nicht, ob wir wirklich das Richtige taten. Aber für deine Mutter gab es keinen anderen Ausweg. Und deshalb begingen wir die Tat.
Gabrielle verwirklichte sehr bald ihren Plan, die Mutter über unsere Heirat zu informieren. Zu unserer unbeschreiblichen Freude stellte sie fest, dass sie ein Kind gebären würde. Du warst die Frucht unserer Liebe, die größte Kostbarkeit unseres Lebens.
Als sie ihrer Mutter von unserer Eheschließung und ihrer Schwangerschaft berichtete, tobte die Gräfin vor Zorn. Sie hatte Recht, Shirley, und ihr Hass auf mich hatte seine guten Gründe.
Ich hatte mir ohne ihr Wissen ihre Tochter angeeignet, und das war ein Schandfleck auf ihrer Familienehre. Wutentbrannt verstieß sie Gabrielle, forderte, dass wir das Schloss verließen und nie wieder betreten würden. Ich bin der Ansicht, dass sie ihre Entscheidung bald darauf wieder rückgängig gemacht hätte, denn sie liebte Gabrielle über alles. Doch noch am selben Tag stellte sie fest, dass der Raphael verschwunden war.
Sie beschuldigte mich, nicht nur ihre Tochter, sondern auch den Familienschatz gestohlen zu haben. Konnte ich das ableugnen? Die beiden Vergehen glichen einander, und in den Augen deiner Mutter las ich die Bitte zu schweigen. Deshalb brachte ich deine Mutter um das Schloss, ihr Land, ihre Familie, ihr Erbe und nahm sie mit nach Amerika.
Wir sprachen nie mehr von ihrer Mutter, denn das wäre zu schmerzlich gewesen. Stattdessen bauten wir unser Leben mit Dir neu auf, um unser Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.
Wenn Du diese Zeilen liest, wird es vielleicht möglich sein, die ganze Wahrheit zu enthüllen. Wenn nicht, dann verbirg sie ebenso wie die Fälschung, die wir vor den Augen der Welt versteckten, behütet von einem kostbaren Schatz.
Folge der Eingebung deines Herzens.
Dein dich liebender Vater.
Shirley war in Tränen aufgelöst. Als sie den Brief gelesen hatte, wischte sie sich über die Augen und atmete tief ein. Sie erhob sich, ging ans Fenster und blickte zum Garten hinunter, wo sich ihre Eltern gegenseitige Liebe gestanden hatten.
Was soll ich nur tun? Sie hielt den Brief noch immer in der Hand. Noch vor einem Monat hätte ich diese Zeilen sofort der Gräfin gezeigt, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll, überlegte sie.
Um den Namen ihres Vaters vor Schande zu bewahren, müsste sie ein Geheimnis preisgeben, das fünfundzwanzig Jahre zurücklag. Würde die Wahrheit alle Schwierigkeiten beseitigen, oder würde sie die Opfer ihrer Eltern zunichte machen? Ihr Vater hatte ihr empfohlen, ihrem Herzen zu lauschen, doch sie hörte nichts, denn sie war von Liebe und Seelenqual überwältigt und konnte einfach keinen Entschluss fassen. Impulsiv dachte sie daran, sich Christophe anzuvertrauen, aber sie schob den Gedanken schnell beiseite. Einem Vertrauensbeweis dieser Art fühlte sie sich nicht gewachsen, und die Trennung, mit der sie bald zu rechnen hatte, wäre noch viel quälender.
Ich werde mir das einfach noch einmal durch den Kopf gehen lassen, sagte sie sich und atmete tief auf. Ich muss den Nebel beseitigen, klar und sorgfältig nachdenken. Wenn ich eine Antwort finde, dann soll es die richtige sein.
Shirley lief durch das Zimmer, überlegte kurz und kleidete sich in Sekundenschnelle um. Sie erinnerte sich des Gefühls der Freiheit, das sie überwältigte, als sie durch die weite Landschaft ritt. Sie zog sich Jeans und ein T-Shirt an, um alles auszuwischen, was ihr Herz und ihren Verstand beschwerte.
10. K APITEL
Der Stallknecht äußerte Bedenken, Babette zu satteln. Respektvoll wandte er ein, dass der Graf Shirley nicht erlaubt hätte, allein auszureiten. Shirley besann sich erstmals ihrer aristokratischen Herkunft und erwiderte stolz, dass sie als Großtochter der Gräfin keine Zustimmung einzuholen brauchte. Der
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