Das Schloss in Frankreich
schreien und den Schutzwall äußerer Gelassenheit niederzureißen. »Wenn Sie schon so sicher waren, dass er sich Ihr kostbares Gemälde angeeignet hatte, warum haben Sie ihn dann nicht hinter Schloss und Riegel gebracht? Weshalb haben Sie keine Anklage erhoben?«
»Wie ich schon sagte, war ihr Vater sehr klug«, erwiderte die Gräfin. »Er wusste, dass ich Gabrielle niemals in einen solchen Skandal verwickeln würde, gleichgültig, wie sehr sie mich verraten hatte. Ob nun mit oder ohne meine Zustimmung: Er war ihr Ehemann, der Vater des Kindes, das sie unter dem Herzen trug. Er wiegte sich in Sicherheit.«
Shirley zügelte ihren Zorn und wandte sich mit ungläubigem Gesicht um: »Sind Sie etwa der Meinung, dass er sie aus Sicherheitsgründen geheiratet hat? Sie haben keine Vorstellung von dem, was sie besaßen. Er liebte meine Mutter mehr als sein Leben, mehr als hundert Gemälde von Raphael.«
Die alte Dame unterbrach Shirley, als hätte sie ihr nicht zugehört: »Sobald ich den Raphael vermisste, forderte ich von Ihrem Vater eine Erklärung. Ihre Eltern bereiteten gerade ihre Abreise vor. Während ich ihn des Diebstahls beschuldigte, tauschten sie einen bezeichnenden Blick aus: dieser Mann, dem ich vertraut hatte, und meine eigene Tochter. Ich erkannte, dass er das Gemälde entwendet hatte, und Gabrielle wusste, dass er ein Dieb war, doch sie nahm Partei für ihn gegen mich. Sie verriet sich selbst, ihre Familie und ihr Land.« Die letzten Worte flüsterte sie nur noch, und ihr strenges Gesicht zuckte schmerzlich auf.
»Ich finde, das Thema sollte für heute abgeschlossen werden«, schaltete Christophe sich ein. Er erhob sich, füllte aus einer Karaffe Cognac in ein Glas und reichte es der Gräfin, mit einigen Worten in Bretonisch.
»Sie haben es nicht mitgenommen.« Shirley trat einen Schritt auf die Gräfin zu, während Christophe eine Hand auf ihren Arm legte.
»Wir wollen heute nicht mehr darüber sprechen.«
Sie befreite sich aus seinem Griff und funkelte ihn zornig an. »Sie haben nicht darüber zu entscheiden, wann ich rede. Ich dulde nicht, dass mein Vater als Dieb gebrandmarkt wird. Sagen Sie mir doch, Graf, wo ist denn jetzt dieses Bild, wenn er es an sich genommen hat. Was hat er damit getan?«
Christophes Braue hob sich, und er sah sie fest an. Sein Blick drückte allzu deutlich aus, was er meinte. Shirleys Gesichtsfarbe wechselte, ihr Mund öffnete sich hilflos, ehe sie ihre Wut hinunterschluckte und sich zur Ruhe zwang.
»Wäre ich ein Mann, würden Sie dafür büßen müssen, dass Sie meine Eltern und mich beschuldigen.«
»Nun, Mademoiselle«, erwiderte er und nickte leicht, »dann habe ich ja Glück gehabt, dass Sie kein Mann sind.«
Shirley entzog sich seinem spöttischen Tonfall und wandte sich wieder der Gräfin zu, die ihre Meinungsverschiedenheit schweigend mitangehört hatte. »Madame, wenn Sie mich in der Annahme hierher kommen ließen, dass ich über den Verbleib Ihres Raphael Bescheid wüsste, werden Sie tief enttäuscht sein. Ich weiß nichts. Umgekehrt muss ich gegen meine eigene Enttäuschung ankämpfen, weil ich mit der Hoffnung zu Ihnen kam, eine Familienbeziehung zu finden, eine Verbindung zu meiner Mutter. Sie, Madame, und ich müssen lernen, mit unseren Enttäuschungen zu leben.« Sie verließ den Salon mit einem kurzen Abschiedsgruß.
Shirley versetzte ihrer Schlafzimmertür einen erlösenden Stoß. Dann zog sie die Koffer vom Kleiderschrank und ließ sie auf das Bett fallen.
Wild entschlossen entfernte sie die ordentlich aufgehängten Kleider aus ihrem Heiligtum und stopfte sie in die Koffer: ein buntes, verwegenes Durcheinander.
»Bleiben Sie draußen«, rief sie heftig, als es an der Tür klopfte. Dann drehte sie sich um und bedachte Christophe mit einem tödlich verletzenden Blick, weil er ihren Befehl missachtet hatte.
Er beobachtete sie nachdenklich beim Packen, ehe er die Tür leise hinter sich schloss. »Sie verlassen uns also, Mademoiselle?«
»Sie haben es erraten.« Sie warf eine hellrosa Bluse auf den Kleiderberg auf ihrem Bett und würdigte ihn weiterhin keines Blicks.
»Ein weiser Entschluss. Es wäre besser gewesen, wenn Sie nicht gekommen wären.«
»Besser?« wiederholte sie und versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. »Besser für wen?«
»Für die Gräfin.«
Sie ging langsam auf ihn zu, sah ihn kämpferisch an und verwünschte seine überlegene Körpergröße. »Die Gräfin hat mich eingeladen, hierher zu kommen. Das heißt, sie beorderte
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