Das Schmetterlingsmädchen - Roman
zueinander standen, wenn sie einander auf Augenhöhe begegneten. Und deshalb hatten sie auf der Zugfahrt, selbst wenn Greta schlief, sorgfältig darauf geachtet, einander nicht zu berühren, nicht wie zufällig den Arm des anderen zu streifen oder einander auch nur zu lange anzuschauen. Sie hatte ernst gemeint, was sie gesagt hatte, und sein Einverständnis war echt. Aber sie brauchte nur neben ihm zu sitzen, um das Gefühl zu haben, dass sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten und sich gegen ihren Willen in seine Richtung neigten.
»Cora.« Alans gepresste und erzürnte Stimme drang in ihre Gedanken. »Was hast du ihm erzählt?«
Als sie nicht antwortete, schlug er mit der Hand auf den Tisch. Sie zuckte zusammen. Ihr Lächeln war verschwunden.
»Das ist dein Liebhaber? Bist du verrückt geworden? Was hast du ihm über mich erzählt?«
Sie war enttäuscht, dass er nur an sich dachte, dass er nicht einen Gedanken an sie verschwendete. Aber sie sah die Angst in seinen Augen.
»Alan. Es macht ihm nichts aus.«
Er schüttelte den Kopf. Selbst im fahlen Licht konnte sie sehen, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich, angefangen bei seiner breiten Stirn über seine glatt rasierten Wangen bis zu dem Grübchen in seinem Kinn.
»Es macht ihm wirklich nichts aus, Alan. Und er hat nichts gegen dich in der Hand. Wenn er es jemandem erzählen würde – was er nicht tun wird –, wären wir alle in der Klemme. Er ist nicht mein Bruder. Man würde uns wegen Unzucht anklagen. Wir würden alle ins Gefängnis kommen.«
»Eure Strafe würde sich kaum mit meiner vergleichen lassen.«
Sie legte eine Hand auf den Schreibtisch und beugte sich vor. »Er könnte seine Tochter verlieren. Und er würde dich nicht in Gefahr bringen. Er hat Verständnis für dich, Alan. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Ich möchte den beiden nur eine Chance geben. Vielleicht werden sie hier nicht glücklich. Aber wir möchten es versuchen. Und anders geht es nicht.«
Sie lehnte sich wieder zurück. Vielleicht hätte sie ihm die Wahrheit verschweigen sollen, sei es auch nur, um ihm diese Ängste zu ersparen. Immerhin würde sie auch Howard und Earle belügen müssen. Und Greta. Aber sie brauchte Alans Unterstützung, zumindest seine Komplizenschaft. Ohne seine Hilfe wäre ihre Lüge weit verdächtiger – außer Alan wusste niemand in Wichita, dass sie als Waise nach Kansas gekommen und in New York geboren war. Aber wenn Alan zu ihr hielt, wenn er den Leuten erzählte, wie schwer sie es gehabt hatte und wie glücklich sie war, endlich ihren Bruder gefunden zu haben, würden viel weniger Fragen gestellt werden.
»Was will er hier machen? Hat er Geld? Erwartest du von mir, dass ich ihn unterhalte?«
»Ich möchte, dass du ihm hilfst, Arbeit zu finden. Das könnte wegen seines Akzentes schwierig sein. Aber du kennst so viele Leute. Du könntest ihm helfen. Er wird jede Arbeit annehmen. Und er versteht etwas von Maschinen und elektrischen Geräten.«
»Was ist mit dem Mädchen?«
»Ich werde mich um sie kümmern.« Wieder lächelte sie. Auch im Zug war Greta ihrem Vater buchstäblich nicht von der Seite gewichen, aber während eines längeren Abschnittes in Missouri hatten sie und Cora nebeneinandergesessen und Scheunen gezählt, und nach einer Weile war Greta mit ihrem blonden Köpfchen auf Coras Schoß eingeschlafen. Sie hatte die Geschichte unbesehen geglaubt. Tante Cora. Ihre seit Langem verschollene Tante Cora, die sie nach Kansas mitnehmen und dafür sorgen würde, dass sie und ihr Papa zusammenblieben.
Alan schüttelte den Kopf. »Du willst sie weiter in dem Glauben lassen, dass sie deine Nichte ist? Du willst dieses Kind weiter belügen?«
»Das lässt sich nicht ändern. Es ist viel zu riskant, wenn wir es nicht tun.«
»Wie lange willst du das durchziehen? Was ist, wenn Howard und Earle nach Hause kommen? Willst du sie auch belügen? Deine eigenen Söhne? Willst du ihnen erzählen, dass dieser Mann ihr Onkel ist? Onkel Joseph aus Düsseldorf?«
»Er kommt aus Hamburg.« Sie hielt seinem Blick stand. »Und wir belügen unsere Söhne schon eine ganze Weile. Jetzt mit der Wahrheit zu kommen, was unsere Ehe – und viele andere Dinge – angeht, würde sie nur verunsichern.«
Er wandte den Blick ab. Sie empfand keine Genugtuung. Es bereitete ihr keine Freude, ihn zu beschämen. Aber er hatte nicht das Recht, sie zu beschämen. Hatte sie nicht auch ein bisschen Glück verdient? Selbst wenn sie lügen musste? Bestimmt begriff er es.
Weitere Kostenlose Bücher