Das Schmetterlingsmädchen - Roman
braves Mädchen sei, das nie Ärger mache, und noch dazu eine sehr gute Schülerin. Der Teil mit dem Lernen war also in Ordnung. Doch in den Pausen saß Cora allein auf dem Hof, während die Jungs herumtobten und die Mädchen ein Spiel spielten, bei dem man versuchte, mit zwei Holzstäben einen mit einem Stoffband umwickelten Holzring in die Luft zu schleudern und wieder aufzufangen. Anmut nannten sie das Spiel, denn es machte einen angeblich anmutig. Die Mädchen hatten insgesamt nur zwei Ringe und mussten sich abwechseln, aber sie spielten jeden Tag und notierten, wer als erste zehn Mal hintereinander den Ring auffing und wer gegen die Gewinnerin antreten sollte. Cora ließen sie nie mitspielen, und manchmal, wenn sie im Hof saß und sich so einsam fühlte, dass es wehtat, wünschte sie, sie wäre wieder in New York und könnte mit Mädchen, die nicht besser als sie selbst waren, Seil springen und Blinde Kuh spielen. Und das, obwohl sie, seit sie in Kansas war, fast jeden Tag Rind oder Hühnchen oder Schweinefleisch und gebutterten Mais und Mutter Kaufmanns Obstkuchen mit echter Schlagsahne aß, obwohl sie jeden Abend gut mit einer weichen Decke zugedeckt wurde und einen Gutenachtkuss bekam, und obwohl sie sonntags zusammen mit den Kaufmanns zur Kirche fuhr und die beiden, die so groß und hellhäutig waren und ihr kein bisschen ähnlich sahen, sie an der Hand nahmen, wenn sie die Kirche betraten, und sich nicht im Geringsten darum scherten, was die anderen dachten.
Eines Tages im Oktober sagte Cora zu Mutter Kaufmann, dass sie nicht mehr zur Schule gehen wollte. Sie saßen Rücken an Rücken und molken jede eine Jersey-Kuh, und die Luft im Stall war so kalt, dass Cora im Licht der Laterne ihren Atem sehen konnte. Sie sagte, dass sie lieber zu Hause bleiben und bei der Arbeit helfen würde. Zuerst war Mutter Kaufmann irritiert. Sie erklärte Cora, dass Schulbildung wichtig und ein Privileg war und dass sie so einen Unsinn nicht noch einmal hören wollte. Aber dann erzählte Cora ihr, warum sie die Schule hasste. Von den anderen, die wussten, dass sie mit dem Zug gekommen war, und dass sie immer ganz allein war und nur zuschauen durfte, wenn die Mädchen Anmut spielten. Eine Weile war nur zu hören, wie die Milch in den Eimer spritzte und Lida in ihrer Box mit den Hufen scharrte, bis Mutter Kaufmann sagte: »Anmut. Ich kann mich an das Spiel erinnern. Nun, es tut unseren Herzen gut, mit Anmut gestärkt zu werden. Ihren auch, denke ich.« Sie drehte sich um und zupfte Cora mit nassem Daumen und Zeigefinger liebevoll am Ohr. »Hörst du, mein Liebes? Wir werden diesen Mädchen mehr Anmut zeigen, als sie je erlebt haben.«
Zuerst befürchtete Cora, dass Mutter Kaufmann zur Schule gehen und die anderen Kinder einschüchtern wollte, damit sie nett zu ihr waren. Geschafft hätte sie es wahrscheinlich. Mutter Kaufmann war zwar sehr dünn, aber sie konnte mit ihrer spitzen Nase sehr streng schauen, und sie war so groß, dass sie unter ihren Kalikohemden die Hosen ihres Mannes trug, wenn sie ihm bei der Feldarbeit half. Aber sie tauchte nie auf dem Schulhof auf. Stattdessen schenkte Mr. Kaufmann Cora ein paar Tage später ihren eigenen Anmut-Ring. Er hatte ihn mit seinem scharfen Messer, das er Arkansas-Zahnstocher nannte, genau nach Mutter Kaufmanns Anweisungen aus einem Stück Holz von der großen Eiche geschnitzt, die im vergangenen Sommer umgestürzt war. Mutter Kaufmann hatte ein rotes Band um den Ring gewickelt und das Ende mit dem Knoten nach unten hängen lassen, genau wie bei den Ringen von Coras Mitschülerinnen.
»Und hier sind die Stäbe«, sagte Mr. Kaufmann, dessen helle Augen strahlten, weil er sich offenbar über Coras verdutztes Gesicht freute. Sie kannte ihn immer noch nicht sehr gut. Außer sonntags kam er nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen ins Haus, sogar wenn draußen Schnee lag. Bei Tisch redete er oft über Regen – wann es regnen würde, wie lange und wie stark. Wenn es kalt war, machte er sich Sorgen über Frost und gefrorenen Boden. Cora verstand in gewisser Weise, dass sein Interesse am Wetter und seiner Arbeit für ihr Wohlergehen genauso wichtig war wie alles, was Mutter Kaufmann sagte oder tat. Aber mit derselben Intuition erfasste sie, dass sie für ihn nicht dieselbe Bedeutung hatte wie für Mutter Kaufmann und Cora so etwas wie ein Geschenk für seine junge Frau gewesen war. Mr. Kaufmann hatte Kinder aus erster Ehe. Seine Frau, die erste Mrs. Kaufmann, war an Lungenentzündung
Weitere Kostenlose Bücher