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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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allein zu lassen. Cora beanspruchte ihre Zeit und auch die Zeit des Anwalts. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ihrerseits so gut wie möglich zu helfen.
    Mit klarer Stimme beantwortete sie jede Frage, so gut sie konnte. Sie war nie ein Dienstmädchen gewesen, sagte sie. Sie half im Haus mit wie jedes Kind, aber die Kaufmanns hatten sie wie ihr eigenes behandelt. Mr. Kaufmann hatte Spielzeug und Puppen für sie geschnitzt, und Mutter Kaufmann hatte Kleider für sie und die Puppen genäht. Ja, sagte sie, Mutter Kaufmann. So habe ich sie angesprochen. Wessen Idee das gewesen war? Daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie erzählte dem Anwalt, wie sie zusammen in der Kirche gesessen hatten und wie die beiden sie dazu gebracht hatten, weiter zur Schule zu gehen, als sie es nicht mehr wollte, und wie dankbar sie dafür jetzt war. Sie erzählte von ihrem kleinen Zimmer im Haus mit dem Bett und der Kommode und wie die Kaufmanns ihr gesagt hatten, dass sie ihr eigenes Zimmer bekommen würde, noch bevor sie den Bahnhof verlassen hatten.
    »Den Bahnhof?« Er blickte fragend von seinem Notizblock auf.
    Genau in diesem Moment fing Mrs. Lindquist, von der Cora angenommen hatte, dass sie einfach ruhig neben ihr saß, an zu schnarchen, mit offenem Mund, den Kopf an die gepolsterte Sofalehne gelegt. Cora lächelte. Es war ihr erstes Lächeln seit dem Unfall. Das Straffen ihrer Lippen fühlte sich seltsam an.
    »Und ich habe mir eingebildet, ich wäre so interessant«, sagte sie.
    Auch Mr. Carlisle lächelte. »Sollen wir sie wecken?«
    Cora schüttelte den Kopf. Sie war in Gedanken schon bei dem Zug und wie ihr als Kind zumute gewesen war, als sie durch diese dunklen Nächte fuhren, ohne zu wissen, was ihnen bevorstand – ganz ähnlich, wie ihr jetzt zumute war. Aber sie sprach ruhig weiter und berichtete von dem Tag, an dem sie die Kaufmanns kennengelernt hatte und von ihnen gefragt worden war, ob sie ihr kleines Mädchen sein wollte. Sie erzählte von dem Zug und all den Stationen, an denen er gehalten hatte, bevor sie ausgesucht worden war, und wie man ihr und den anderen Kindern beigebracht hatte, auf Bühnen und Vordertreppen von Rathäusern und Kirchen Jesus liebt mich zu singen. Wer nicht ausgesucht wurde, musste wieder in den Zug steigen. Am Ende des Waggons stand ein Krug mit einem Schöpfer, fiel ihr ein, und wenn man Durst hatte, konnte man hingehen und einen Schluck Wasser trinken.
    Irgendwann hörte er auf zu schreiben und stützte seinen Ellbogen auf die Stuhllehne und sein Kinn auf die Hand.
    »Meine Güte«, sagte Cora. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht auch schläfrig gemacht.«
    »Keineswegs.« Er hielt ihren Blick fest, bevor er wieder in seinen Notizblock sah. »Hatten Sie in New York Familie?«
    Sie starrte auf den geblümten Rand ihrer Teetasse und blinzelte. Ihre einzige Erinnerung war vielleicht nicht einmal echt. Aber sie sah die Frau immer noch deutlich vor sich, zu deutlich, um sie geträumt zu haben. Sie konnte die ausgefransten Enden des roten Tuches sehen.
    »Tut mir leid. Ich sehe Ihnen an, wie schwer das für Sie ist.« Er legte seinen Füller hin, zog ein weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und wollte es ihr schon anbieten, als er merkte, dass sie nicht weinen würde, und es wieder einsteckte.
    »Es geht mir gut«, sagte sie. »Ich habe einfach lange nicht mehr daran gedacht, auch wenn das vielleicht merkwürdig klingt.« Sie sah ihn an und wartete. Sie wusste es wirklich nicht.
    Er zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ich bin zusammen mit meiner Schwester und meinen Eltern in Wichita aufgewachsen. Niemand hat mich in einen Zug gesetzt, als ich sechs Jahre alt war.«
    Mrs. Lindquist schnarchte immer noch.
    Cora lächelte wieder. Ihr Blick ruhte auf seinen Händen. Seine Fingernägel waren sauber und gerade geschnitten. »Ich weiß selbst nicht, ob ich es erklären kann. Hierherzukommen war, als würde man jemand anders werden. Ich glaube, das war uns allen klar, so klein wir noch waren. Wir wussten, oder wenigstens ich wusste, dass wir brav sein mussten, und das hieß, dass wir das sein mussten, was man haben wollte. In meinem Fall war es die Tochter der Kaufmanns, was ein Glücksfall war. Aber schon damals konnte ich daran festhalten, wer ich war. Oder vielleicht fing ich nach und nach an, das zu denken.« Sie wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt.«
    »Allerdings.«
    Es überraschte sie, wie überzeugt er klang. Und er sah sie so

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