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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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erwarten könnte, diese berühmte Straße zu betreten und Großstadtluft zu atmen.
    Cora hatte den Eindruck, dass die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruhte. Als sie und Louise durch die großen Türen in die schwüle Luft hinaustraten, hielten trotz des hektischen Getriebes der Leute, die hinein- und hinausgingen, alle möglichen Männer – Arbeiter in Hemdsärmeln, Seeleute, sogar gut gekleidete Männer, die in Eile zu sein schienen – kurz inne, um ihren Blick auf Louises Gesicht ruhen zu lassen, bevor er über ihre Figur glitt. Schöne Frauen in Seidenkleidern drehten sich um, um ihre Frisur zu begutachten, den strengen, kurzen Schnitt, der selbst unter all den anderen Bubiköpfen auffiel. Zumindest hoffte Cora, dass sie sie deshalb anstarrten. Morgens im Zug war Louise in einem hellgrünen Rock und einer kurzärmeligen weißen Bluse mit so tiefem V-Ausschnitt aus dem Waschraum für Damen zurückgekehrt, dass sie Cora schwören musste, dass ihre Mutter die Bluse nicht nur billigte, sondern sie ihr sogar selbst gekauft hatte. Cora beließ es dabei. Entweder Louise log, oder Myra hatte ein ausgesprochen schlechtes Urteilsvermögen, doch Cora war nicht danach zumute gewesen, ein großes Theater darum zu machen. Und so ruhten zahlreiche Blicke auf Louise, ihrem schönen Gesicht, dem auffallenden Haar und zarten Dekolleté, als sie auf die Straßen von New York hinaustraten. Sie tat so, als bemerkte sie die Aufmerksamkeit, die sie erregte, gar nicht, aber Cora, die verstohlen zu ihr spähte, hatte den Verdacht, dass sie sich derer durchaus bewusst war.
    Cora hingegen wusste, dass sie selbst nicht mit einem perfekten Aussehen überzeugen konnte. Sie brauchte dringend ein Bad. Auf der Fahrt von Chicago waren die Fenster fast ständig offen gewesen, und sie fühlte sich, als wäre sie in Fett getaucht, gründlich erhitzt und zu guter Letzt in Staub gewälzt worden. Und sie war müde. Trotz ihrer zweckmäßigen flachen Schuhe hatte sie Mühe beim Gehen, als sie mit Louise eine breite Straße überquerte und einen Taxistand ansteuerte. »Die Leute hier sind richtig flott«, sagte Louise und warf einen Blick über die Schulter. »Ist Ihnen das schon aufgefallen? Sie gehen schneller, reden schneller und überhaupt! Toll!«
    Das Treiben und Gedränge der Menschenmassen war tatsächlich allerhand. Cora vermied es, zu den Hochhäusern hinaufzuschauen und sie wie der Neuankömmling, der sie war, mit offenem Mund anzustarren. Sie hatte sich die Warnungen der Leute zu Hause zu Herzen genommen und war auf der Hut vor Taschendieben und anderen Gaunern, aber während der kurzen Wartezeit am Taxistand ließen sich weder ein Taschendieb noch sonstige Gauner blicken. Sowie Louise und sie sich in der relativen Ruhe und Sicherheit des Taxis befanden, versuchte sie all das Neue aufzunehmen und bekam mehr Gebäude und Autos und Züge und Sraßenbahnen auf einmal zu sehen, als sie sich je hätte träumen lassen. Sie hatte in der Zeitung Fotos von New York gesehen, Straßenszenen und Bilder von Paraden. Jahrelang hatte sie sie sorgfältig studiert und in ihnen etwas gesucht – eine Straßenecke, eine Hausfassade, den Gesichtsausdruck eines Passanten –, das Erinnerungen an ihr früheres Leben wecken könnte. Aber den tatsächlichen Lärm der Stadt, all die Motoren und Hupen und Presslufthämmer und Bohrer und das Rattern der Hochbahn, hatte sie sich nicht einmal annähernd vorstellen können. Das einzige Bild, das New York ihr vermittelte, die einzige Beschreibung, die sie zu Hause abgeben könnte, war der Eindruck, hundert Douglas Avenues wären am verkehrsreichsten Tag des Jahres aufeinandergeprallt. Sie war fasziniert und überwältigt zugleich.
    Louises Enthusiasmus blieb ungebrochen, auch als sie in der Sechsundachtzigsten Straße West eintrafen, auch nachdem sie drei Stockwerke hinaufgestiegen waren, und sogar nachdem sie den Schlüssel wie vom Vermieter angekündigt unter dem losen Brett neben der Tür fanden und die enttäuschende Wohnung betraten.
    »Gar nicht so übel«, meinte Louise, während sie erfolglos versuchte, eine Lampe anzuknipsen, die, wie Cora hoffte, nur eine neue Glühbirne brauchte. Das Vorderzimmer war klein und hatte gelb gestrichene Wände, und ein Großteil des Raumes wurde von einem Schreibtisch und einem runden Tisch mit drei Stühlen beansprucht. Ein Fenster gab es nicht, nur das gerahmte Ölbild einer Siamkatze hing über dem Schreibtisch. Cora folgte Louise in eine enge Küche, die gleichzeitig der Gang

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